Brief an den Vater
Anlass 
1. Seite

Im September 1919 kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Kafka und seinen Eltern: Diese wandten sich vehement gegen die geplante Hochzeit mit Julie Wohryzek, einer Sekretärin aus Prag, die Kafka im Winter zuvor in Schelesen kennengelernt hatte. Vor allem Hermann Kafka ließ sich gegenüber dem Sohn zu beleidigenden Äußerungen hinreißen: Er bot ihm an, ihn persönlich ins Bordell zu führen, damit er nicht darauf angewiesen sei, »eine Beliebige« zu heiraten.

Dieser Vorfall kränkte Kafka tief und veranlasste ihn zu dem Versuch, die von jeher gespannte Beziehung zum Vater auf eine neue Grundlage zu stellen. Der Brief zeigt, dass er dabei durchaus auch an eine ›Abrechnung‹ dachte — ein Gegenangriff mit dem Ziel, die eigene Selbstachtung zu wahren. Vor allem aber ging es Kafka um die Rechtfertigung des eigenen Verhaltens und um das freie Erörtern der Beziehung und der gemeinsamen Geschichte.

Ironischerweise gibt es Indizien dafür, dass Kafka hier einen ›falschen‹ Anlass wählte. Denn die heftige Abwehr der Eltern galt keineswegs, wie er vermutete, dem niederen sozialen Status der Braut, sondern deren freizügigem Lebenswandel. Schon über Felice Bauer hatten die Kafkas Jahre zuvor Erkundigungen eingezogen (gegen den Willen des Sohns), und auch über die Familie Wohryzek wurde ein Auskunftsbüro befragt. Offenbar war es aber nicht möglich, das Ergebnis dieser Nachforschungen dem eigenen Sohn mitzuteilen — Kafka hätte gewiss anders reagiert, hätte er bei den Eltern irgendwelche begründeten, nachvollziehbaren Vorbehalte unterstellen können.

Entstehung 
2. Seite, Detail

Der im Manuskript mehr als 100 Seiten umfassende Brief entstand im November 1919 in Schelesen, wo sich Kafka erneut zur Erholung aufhielt. Die überlieferte Fassung zeigt nur wenige Korrekturen; sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine Reinschrift, die Kafka aus vorangegangenen (nicht erhaltenen) Entwürfen zusammenstellte. Insgesamt dauerte die Niederschrift etwa zwei Wochen.

Wie Max Brod mitteilt, hatte Kafka die Absicht, den Brief seiner Mutter zu übergeben, die ihn dann an den Vater weiterreichen sollte. Dieser Bitte sei Julie Kafka jedoch nicht nachgekommen.

Auch im Jahr 1920 spielte Kafka noch immer mit dem Gedanken, den Brief seinem eigentlichen Adressaten zuzustellen. Allmählich wuchs aber der Zweifel daran, ob eine Verständigung mit dem Vater — geschweige denn eine Aussöhnung — durch ein derartiges Dokument zu erreichen sein würde. Je weiter sich Kafka vom unmittelbaren Anlass des Briefes entfernte, desto mehr begriff er ihn als autobiografischen Text, der eines realen Gegenübers gar nicht bedurfte.

Dafür gibt es zwei Indizien. Zum einen hat Kafka seinen Brief maschinenschriftlich abschreiben lassen und damit zumindest einer Person außerhalb der Familie (einer Stenotypistin) Einblick gegeben. Das geschah sonst ausschließlich mit Texten, die zur Veröffentlichung bestimmt waren. Zum anderen entschloss sich Kafka im Sommer 1920, Milena Jesenská den Brief zur Lektüre und zur Verwahrung anzuvertrauen, und er begann sogar damit, zwischen die Zeilen mit Bleistift Erläuterungen für Milena einzufügen (siehe Abbildung), womit er die Blätter als wirklichen ›Brief‹ natürlich unbrauchbar machte. Warum schließlich auch Milena Jesenská das Konvolut nicht zu sehen bekam, ist unklar.

Form und Gehalt 

Als Max Brod sich Anfang der fünfziger Jahre entschloss, den Brief an den Vater in die Gesammelten Werke Kafkas aufzunehmen, stand er vor der Frage, ob der Text als Brief im wörtlichen Sinne zu betrachten war — dann hätte er ihn chronologisch in Kafkas Korrespondenz einreihen müssen —, oder ob es sich vielmehr um ein ›Werk‹ handelte. Da der Brief nicht nur unter Kafkas Texten, sondern auch im weltweiten autobiografischen Schrifttum eine einzigartige Stellung einnimmt, war Brods Entscheidung für das ›Werk‹ sicherlich begründet.

Das wirft allerdings die Frage auf, inwieweit Kafkas Schilderung der väterlichen Tyrannei und der eigenen psychischen Entwicklung wörtlich zu nehmen ist und in welchem Maße sie literarisch überformt oder gar fiktional ist. Diese Frage ist bis heute umstritten und aufgrund unserer geringen Kenntnis von Kafkas Kindheit wohl auch nicht zu entscheiden. Es gibt jedoch starke Argumente für die Wahrhaftigkeit des Briefes.

Zum einen wäre es voreilig, von der literarischen Form, dem Sprachniveau und der stilistischen Perfektion des Briefes auf dessen Fiktionalität zu schließen. Kafka hat sich in allen seinen Briefen sehr ausgiebig literarischer und rhetorischer Mittel bedient, ohne deshalb ›Literatur‹ produzieren zu wollen.

Auch ist die Vorstellung ganz abwegig, Kafka hätte bestimmte Vorfälle der Vergangenheit in seinem Sinne ausgeschmückt oder gar frei erfunden — der Vater als Adressat und Augenzeuge hätte ihn dann allzu leicht widerlegen können. Man darf im Gegenteil unterstellen, dass Kafka gerade bei konkreten Beispielen des väterlichen Verhaltens besonders genau war, um sich im Sachlichen keine Blöße zu geben. Für die Verlässlichkeit des Briefs spricht auch die Sorgfalt, mit der Kafka unterscheidet zwischen dem autoritären und höchst widersprüchlichen Verhalten des Vaters und dem bleibenden psychischen Eindruck, den dieses Verhalten bei ihm selbst hinterließ.

Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob die von Kafka angeführten Beispiele repräsentativ waren und ob die Wechselwirkung zwischen der eigenen Schwäche und der psychischen Übermacht des Vaters sich tatsächlich so abgespielt hat, wie er es schildert. Kafka hatte ein sehr ausgeprägtes Selbstbild, das von Begriffen wie ›Entscheidungsschwäche‹, ›Lebensunfähigkeit‹ und ›Beamtenhaftigkeit‹ geprägt war, und er neigte dazu, alles, was diesem Selbstbild widersprach (zum Beispiel seinen beruflichen Erfolg), zu unterschätzen oder zu verdrängen. Es ist daher wahrscheinlich, dass auch im Brief an den Vater die eigene Unterlegenheit überzeichnet und die ›Logik des Untergangs‹ allzu stringent erscheint. Als durchaus plausibel erscheint jedoch Kafkas Bestreben, die Frage nach der persönlichen Schuld hinter sich zu lassen und den Zusammenprall derart unterschiedlicher Charaktere eher als Verhängnis zu begreifen.

Der Brief an den Vater bietet vor allem die Schilderung einer innerpsychischen Dynamik: eine der genauesten und eindringlichsten Analysen patriarchaler Machtverhältnisse und ihrer seelischen Verheerungen. Rückschlüsse auf die soziale und atmosphärische Wirklichkeit sind jedoch nur mit Vorsicht zu ziehen: So ist die Vorstellung, das Familienleben der Kafkas sei von latenter Gewalt und von finsterem Schweigen geprägt gewesen, völlig verfehlt. Auch unter diesem Vorbehalt jedoch bleibt Kafkas Brief das wichtigste biografische Zeugnis, das wir von ihm besitzen.