Die Lesung in München im November 1916 – seine einzige Lesung außerhalb Prags – machte Kafka bewusst, wie sehr er in den beiden Jahren zuvor das eigene schöpferische Potenzial vernachlässigt hatte. Sofort nach der Rückkehr machte er sich auf die Suche nach einer ruhigeren Wohnung; als Provisorium bot ihm Ottla ein winziges Häuschen auf dem Hradschin an (Alchimistengasse 22), das sie zunächst für sich selbst angemietet hatte. Der karge Raum (heute eine Attraktion für Touristen, siehe Foto) diente Kafka bis Mai 1917 als »Arbeitswohnung«. Während Prag zunehmend von Kohlennot und Hunger beherrscht war, verfasste Kafka in rascher Folge fast alle Texte, die später unter dem Titel Ein Landarzt zusammengefasst wurden.
Mit einer völlig neuen Situation sah sich Kafka im Herbst 1917 konfrontiert: Er erlitt einen Lungenblutsturz und wurde für mehrere Monate vom Bürodienst freigestellt. Kafka entschied sich dafür, den folgenden Winter im westböhmischen Dorf Zürau zu verbringen, wo Ottla einen kleinen Hof bewirtschaftete. Diese Zeit nutzte er für Hebräischlektionen und ausgiebige Lektüre, doch war er literarisch bei weitem nicht mehr so produktiv wie im Winter zuvor. Erhalten sind zwei Oktavhefte mit zahlreichen kurzen, überwiegend reflektierenden Texten.
Den folgenden Winter verbrachte Kafka ebenfalls fern der Stadt, in einer Pension im nordböhmischen Schelesen. Auch hier scheint er keinen Versuch unternommen zu haben, längere, zur Veröffentlichung geeignete Prosawerke zu Papier zu bringen. Die seit der Landarzt-Phase erste größere Arbeit datiert auf November 1919: der Brief an den Vater.
Eine Reihe weiterer, mit den Landarzt-Erzählungen vergleichbarer Prosastücke entstanden erst in der zweiten Jahreshälfte 1920. Anlass waren wohl vor allem das erneute Scheitern einer Liebesbeziehung (mit Milena Jesenská) und das Anwachsen der Tuberkulose-Erkrankung zu einer nicht mehr zu verdrängenden, existenziellen Bedrohung.
In den Jahren 1916 bis 1920 experimentierte Kafka mit neuen literarischen Formen: Er versuchte sich an einem Bühnenwerk (Der Gruftwächter), verfasste Aphorismen und schlug auch mit seinen Landarzt-Erzählungen Wege ein, die ihn von den ›realistischen‹ Konventionen des Erzählens weiter entfernten als je zuvor.
So tritt im Bericht für eine Akademie ein Affe als Ich-
Offenkundig ist, dass Kafka Bauelemente der Allegorie, des Gleichnisses, des Märchens und der Parabel erstmals extensiv zu nutzen suchte. Dahinter steht das erklärte Ziel, »die Welt« mit sprachlichen Mitteln »ins Reine, Wahre, Unveränderliche« zu heben. Offenbar war Kafka bereit, dafür auch das erzählerische Moment seiner Prosa weitgehend zu opfern: So gibt es etwa in dem langen Fragment Beim Bau der Chinesischen Mauer keine Handlung im eigentlichen Sinne mehr, stattdessen eine Abfolge sachlicher Erörterungen. Dieses Vordringen von Denkbild und Reflexion kennzeichnet auch die 1920 entstandenen Texte, etwa Prometheus, Der Geier, Der Kreisel oder Kleine Fabel.
Völlig singulär in Kafkas Werk sind die in Zürau entstandenen Aphorismen. Kafka begibt sich hier in eine Grenzzone zwischen Literatur, Philosophie und Theologie — nur wenige Interpreten haben damit etwas anzufangen gewusst, und trotz der nachweislichen Einflüsse und Bezüge (Altes Testament, Gnostik, jüdische Mystik, Kierkegaard) lässt sich ein geschlossenes ›Weltbild‹ aus diesen Gedankensplittern und Paradoxien gewiss nicht herauslesen. Deutlich sind jedoch die Querverbindungen zu Kafkas Erzählwelt. So ist etwa die Existenz einer transzendenten Machtinstanz, die für den Menschen unerreichbar und unerkennbar ist, ein Thema auch der Aphorismen.
Kafka selbst sorgte dafür, dass die in der Alchimistengasse entstandenen Werke schon ab 1917 in Zeitschriften und Almanachen erschienen. Auch eine Aufforderung Kurt Wolffs beantwortete er ohne zu zögern und sandte dem Verleger dreizehn »kleine Erzählungen«. Von diesen Werken war der Verleger derart angetan, dass er nicht nur die baldige Veröffentlichung des Sammelbandes Ein Landarzt versprach, sondern Kafka für die Zeit nach dem Krieg eine »fortlaufende materielle Förderung« in Aussicht stellte.
Um so enttäuschender war es für Kafka, dass diesen Ankündigungen keine Taten folgten. Dass sich die Produktion von Ein Landarzt jahrelang hinzog und überdies nachlässig betreut wurde, veranlasste Kafka sogar dazu, über einen Verlagswechsel nachzudenken (zwei Angebote lagen ihm bereits vor). Der Band erschien bei Wolff erst im Mai 1920.
Möglicherweise hatte Kafka vor, auch die Reflexionen aus Zürau teilweise zu publizieren. Dafür spricht, dass er mehr als 100 aphoristische Texte auf separate Zettel abschrieb und chronologisch nummerierte. Diese Zettel veröffentlichte Max Brod dann 1931 aus dem Nachlass, unter dem selbst formulierten (und recht tendenziösen) Titel Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. Auch die Prosastücke von 1920 wurden sämtlich erst aus dem Nachlass publiziert.