Kafka verbessert Kleist

Seinen [Kafkas] letzten Brief hat mir sein Arzt und Freund Dr. Klopstock wiedergegeben. Er handelt über eine der kleinen Geschichten Heinrich von Kleists aus dem preussisch-französischen Krieg, in der Kleist nichts weiter erzählt, als dass ein französischer Artilleriegeneral vor der Schlacht seine Leute aufstellt, indem er jedem mit einem Degen auf eine Stelle zeigt und dazu jedesmal sagt: »Hier wirst du sterben – und hier du – hier du und hier du!« Kafka las diese kleine Anekdote besonders gern vor.

»Jetzt könnte ich die Geschichte von Kleist nicht mehr vorlesen«, so schreibt etwa der Kehlkopfkranke, dem Tode Geweihte. »Meine Stimme ist zu heiser und rauh geworden. Oder ich müsste einen neuen Schluss dazu erfinden. Ich wüsste ihn auch schon. Der letzte der Soldaten, die der französische General aufstellt, müsste ihm antworten: ›Und hier wirst du sterben!‹, müsste zum Karabiner greifen und den General niederschiessen. Mit dieser Pointe könnte es meine heisere Stimme zur Not noch riskieren!«



Diese Erinnerung aus zweiter Hand veröffentlichte Willy Haas 1933 im Prager Mittag, einer Emigrantenzeitung, im Rahmen einer fünfteiligen Serie mit Impressionen aus dem ›alten‹ Prag. Die Anekdote, die Haas sinngemäß richtig wiedergibt, publizierte Kleist 1810 unter dem Titel Französisches Exerzitium, das man nachmachen sollte. Sie endet im Original mit den Worten: »Diese Instruktionen an die Artilleristen, bestimmt und unverklausuliert, an dem Ort wo die Batterie aufgefahren wird zu sterben, soll, wie man sagt, in der Schlacht, wenn sie gut ausgeführt wird, die außerordentlichste Wirkung tun.«

Tatsächlich hat Kafka die Kleist’schen Anekdoten geschätzt und in Briefen auch mehrfach erwähnt. Jener »letzte Brief« Kafkas an Robert Klopstock ist allerdings nicht überliefert. Auch auf den erhaltenen Zetteln, die der zum Schweigen verurteilte Kafka in den letzten Wochen vor seinem Tod benutzte, um sich mit dem anwesenden Klopstock zu verständigen, ist von Kleist nicht die Rede.



Quelle: Willy Haas, ›Dreimal die Stimme des Todes‹ [= Teil III von Haas‘ Serie ›Prag und die Prager‹], in: Prager Mittag, 7. August 1933, S. 3.