In dem bürgerlichen Milieu, in dem Kafka aufwuchs, war es üblich, dass die Söhne erst dann heirateten, wenn sie eine dauerhafte Anstellung gefunden hatten und somit eine eigene Familie ernähren konnten. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde in der Regel auch die erste eigene Wohnung bezogen, zu deren Ausstattung die beiden Elternpaare meist einen erheblichen Teil beitrugen. Nicht anders wurde auch in Kafkas Freundeskreis verfahren: Max Brod wohnte bis zu seinem 28., Felix Weltsch bis zum 29. Lebensjahr bei den Eltern. Beide bezogen erst mit der Heirat eine eigene Wohnung.
Der bloße Wunsch, erwachsen zu werden und sich von den Eltern zu lösen, war demnach kein akzeptierter Grund, sich eine eigene Unterkunft zu suchen. Kam es zu keiner Heirat – aus welchen Gründen auch immer –, dann musste ein sozial unverdächtiger Anlass gefunden werden, um die räumliche Trennung irgendwann doch noch zu ermöglichen – am ehesten durch Ortswechsel.
Es hätte einen Affront bedeutet und Konflikte mit der gesamten Verwandtschaft nach sich gezogen, hätte Kafka, ohne eine Braut ›vorweisen‹ zu können, das Elternhaus verlassen, nur um in derselben Stadt eine Wohnung zu mieten. Das wäre überdies als extravagante Geldverschwendung aufgefasst worden. Aufgrund seiner defensiven, wenig spontanen Natur war Kafka zu einer derartigen konfliktträchtigen Entscheidung nicht imstande.
Kafka musste bei Kriegsbeginn, im Alter von 31 Jahren, sein Zimmer bei den Eltern räumen, um Platz für seine Schwester Elli und deren Kinder zu machen. Er mietete ein eigenes Zimmer, wenige Straßen entfernt. Da aber zu befürchten war, dass Ellis Ehemann noch jahrelang nicht aus dem Krieg zurückkehren würde, konnte Kafka der Familie halbwegs plausibel machen, warum er Anfang 1917 eine ganze Wohnung mietete (im Palais Schönborn).
Hinter Kafkas häufig wiederholtem Wunsch, aus Prag wegzugehen, stand nicht zuletzt auch das Verlangen, ohne Eklat die elterliche Wohnung zu verlassen und sich Ruhe zum Schreiben zu verschaffen. Der ›zeitgemäße‹ Absprung nach Berlin, zu dem er fest entschlossen war, wurde jedoch durch den Krieg verhindert. Später war Kafka aufgrund seiner Tuberkulose, einer lebensgefährlichen Erkrankung an Spanischer Grippe und wegen der um 1918 katastrophalen Versorgungslage auf familiäre Unterstützung angewiesen. Erst 1923 machte er seinen Traum wahr und lebte mit Dora Diamant in gemeinsamer Wohnung in Berlin. Dort waren ihm jedoch nur noch wenige Monate vergönnt.