Im April 1911 lernte Kafka während einer Dienstreise in Nordböhmen den fanatischen Naturheilkundler Moriz Schnitzer kennen. Aus Max Brods Notizen geht hervor, dass Kafka äußerst beeindruckt war. »Freitag nachmittag besuchte er mich, erzählt sehr hübsche Dinge von der Gartenstadt Warnsdorf, einem ›Zauberer‹, Naturheilmenschen, reichen Fabrikanten, der ihn untersucht, nur den Hals im Profil und von vorn, dann von Giften im Rückenmark und fast schon im Gehirn spricht, die infolge verkehrter Lebensweise entstanden seien. Als Heilmittel empfiehlt er: bei offenem Fenster schlafen, Sonnenbad, Gartenarbeit, Tätigkeit in einem Naturheil-Verein und Abonnement der von diesem Verein, respektive dem Fabrikenten selbst, herausgegebenen Zeitschrift. Spricht gegen Ärzte, Medizinen, Impfen.«
Kafka hielt sich beinahe lebenslang an diese Ratschläge, abonnierte auch das in Warnsdorf erscheinende Reformblatt für Gesundheitspflege und dachte allen Ernstes daran, in Prag einen Naturheilverein zu gründen. Aus einer Spendenliste des Reformblatts vom Juni 1911 (Heft 172, siehe Abbildung) geht hervor, dass sich Kafka bei seinem Besuch auch von Schnitzers Propaganda gegen den ›Impfzwang‹ überzeugen ließ: Er spendete zwei Kronen. Auf seiner eigenen militärischen Einberufungskarte von 1915 sind keine Impfungen eingetragen.
Ab Ende 1918 lag Warnsdorf auf dem Gebiet der neu gegründeten Tschechoslowakischen Republik. Auch dieser Staat erließ ein Gesetz, das die Pockenimpfung obligatorisch machte, wodurch sich wiederum Schnitzer veranlasst sah, seinen Abwehrkampf fortzusetzen. In Heft 276 (Juni 1920) brachte er einen Artikel ›Aus der Unheils-Chronik der Zwangsimpfung‹, der die Beschlagnahme des Reformblatts und sogar eine Interpellation im tschechoslowakischen Parlament zur Folge hatte.
Kafka dürfte diesen Konflikt mit Interesse verfolgt haben, denn das Reformblatt für Gesundheitspflege las er nachweislich noch 1924, im Jahr seines Todes.
Quelle: Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch) 1974, S. 97.