Während einer gemeinsamen Ferienreise über Lugano und Mailand nach Paris (August/September 1911) verfielen Kafka und Max Brod auf die Idee, einen neuen Typ von Reiseführern zu schaffen. »Er sollte ›Billig‹ heißen«, erinnerte sich Brod. »Franz war unermüdlich und hatte eine kindische Freude daran, die Prinzipien dieses Typs, der uns zu Millionären machen und vor allem der scheußlichen Amtsarbeit entreißen sollte, bis in alle Feinheiten auszubauen. Ich habe dann allen Ernstes mit Verlegern über unsere ›Reform der Reisehandbücher‹ Korrespondenz gepflogen. Die Verhandlungen scheiterten daran, daß wir das kostbare Geheimnis ohne einen Riesenvorschuß nicht preisgeben wollten.« (Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1966, Seite 106f.)
Auf Briefpapier des Hotels Belvédère au Lac in Lugano entwarfen Kafka und Brod gemeinsam das folgende Memorandum, das in der Handschrift Brods überliefert ist:
Unser Millionenplan ›Billig‹
Ein Millionenunternehmen.
Billig durch Italien, Billig durch die Schweiz, Billig in Paris — Billig durch die Böhmischen Kurorte und in Prag.
In alle Sprachen übersetzbar.
Motto: Nur Mut.
Unser demokratisches Zeitalter hat gewissermaßen unbemerkt alle Bedingungen für ein leichtes und allgemeines Reisen schon ausgebildet. Diese zu sammeln und systematisch bekannt zu machen ist unsere Aufgabe. — Bisher praktische Erkundigungen und praktische Ratschläge (Berliner Tageblatt) bei Freunden. Vereinzelt, zufällig, bald vergessen — das wenige sehr nützlich, wie sich jeder erinnern wird. In den Führern erstaunlich wenig hierüber. Ein schwacher Ansatz ist der * bei Bädeker und die Bemerkung »gelobt« — oft enttäuschend.
Was heißt »billig«. — Viele Nüancen. Wir grenzen ab gegen die Palasthotels und den protzigen unbeholfenen Mittelstand. — Auch nach unten. — Wir wenden uns an die, die das Reisen irrtümlich oder, weil schlecht beraten, für zu kostspielig halten und in den (an sich schönen, aber schon bekannten) Umgebungen der Heimatstädte bleiben. Wir wollen so billige Aufenthalte wie diese Sommerfrischen in der ganzen Welt nachweisen — eventuell auch noch die Reise einkalkulieren.
Auch jene, die eine Reise wagen und denen das Rechnen, Kalkulieren das Reisen verdirbt — und (pardon!) jene, die hineinfallen. — Das zufällige Hineinfallen ist bisher als ständiger Faktor zu rechnen gewesen, dem Lande oft zugeschrieben. Italien, Paris. So heben wir auch den Ruf der Länder. — Verständigung der Nationen.
Erzieherisches Moment der Energie für die ganze Person.
Betrogen werden nur schlecht orientierte Reisende.
Derselbe Genuß um weniger Geld. Consommation im Monico.
II
Exaktheit, Begrenztheit. Die Wahl soll erspart werden. — Eine Route zu 400, 500 Francs u.s.f.
Prinzip der Gesellschaftsreisen, aber solo. Vergleich mit Selbstunterrichtsbriefen.
Keine Gesammtgeographie, sondern Routen.
Wir nennen nur ein Hotel, falls dies besetzt in absteigender Reihenfolge andere.
Falls Tramway, nennen wir nicht die Droschke.
Wir empfehlen eine präzise Zeit zur Reise.
Ebenso einfach: Ärzte, ...
[Das folgende von Kafkas Hand:] Nicht rasch oder langsam Reisende, sondern eine bestimmte Mittelgruppe. Abweichungen sind leichter möglich, da immer an ein Praecises angeschlossen werden kann.
Genaue Trinkgelder.
[Wieder von Brods Hand:] Nicht pedantisch: wir raten z.B. zum Trinkgeld an Bademeister — Fernrohr auf dem Rigi —
Zu den Routen: nichts wiederholt sich. Nur eine Drahtseilbahn, aber die Beste! —
Auszug aus dem Eisenbahnkourier.
Was auf die Reise mitnehmen?
III
Wir bringen mehr. Der kurze »Allgemeine Teil« in andern Führern.
Kleidung.
Bordelle. Vor Bauernfängern bewahrt. (N.B. Charakter der Offenheit in unserm Führer.)
Reiseandenken.
Billige Einkäufe z.B. Seide in Italien; Ananas, Madeleines, Austern in Paris.
Keine Angst vor falschem Geld.
Freikonzerte.
Einkalkulierung billiger Tage (Gemäldegallerie) nach teuren Fahrten.
Wo bekommt man Freikarten wie ein Einheimischer.
Dampfer zweiter Klasse.
Keine Angst vor der 3. Klasse in Italien. Volkscharakter.
Reform der Karten und Pläne?
Erklärung der Spielsäle, Verluste.
Gratis-Pläne der Verkehrsbüros, ihre Kritik in unserem Führer, das andere kann man glauben.
ad III.
Was an Regentagen zu machen ist. Eventuell am letzten Tag.
Bildergallerie, am billigen Tag. Nur wenige wichtige Bilder.
Diese aber gründlich (Kunstwart-Art) volkserzieherisch.
Billige gute Plätze in den Theatern, sonst nur den Habitués bekannt.
Aussteigen auf dem Dampfer.
IV
Controlle der empfohlenen Hotels durch eine Organisation.
Wir übernehmen die Instruktion der Autoren, die Durchsicht ihrer Elaborate, Stichproben.
N.B. Wie ist Baedeker organisiert?
Flugblätter zu 10 Pfennig, jedes 2. Jahr etwa, 5 Bons in den Büchern.
Warnung vor Ansichtskarten, Beschränkung auf die 12 beigelegten (?)
V
Sprachführer aus dem Grunde, weil durch die Kenntnis der Sprache viel Geld erspart wird.
Ausgabe mit und ohne Führer, für die, welche die Sprache kennen.
Unser Prinzip: es ist unmöglich, eine Sprache vollständig zu erlernen. Man muß sich daher mit derjenigen Stufe begnügen, welche am wenigsten Mühe macht und doch genügt. Besser genügt als schlechtes Sprechen der gründlich studierten Sprache und Nachdenken über Regeln. — Nebeneinanderstellung der Infinitive. — 200 Vokabeln. — Eine Art Esperanto. — Zeichensprache in Italien. — Aussprache gründlich — Weiterlernen nicht behindert. — Französisch von uns. — Das Wichtigste über den Schweizer Dialekt.
Man kauft sich einen »Billig«.
VI
Ausstattung.
Erstmals abgedruckt in: Max Brod/Franz Kafka, Eine Freundschaft. Reiseaufzeichnungen, hrsg. von Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1987, Seite 189-192.