Kafka fälscht eine Unterschrift (I)

Im Goethehaus zu Weimar, das er Anfang Juli 1912 gemeinsam mit Max Brod besichtigte, verliebte sich Kafka in Margarethe Kirchner, die 16jährige Tochter des Hausmeisters. Obwohl mehrere Rendezvous mit ihr nicht eben erfolgversprechend verlaufen waren, kam es nach Kafkas Abreise noch zum Austausch von Postkarten. — Aus Jungborn im Harz, wo Kafka sich anschließend zur Kur aufhielt, schrieb er am 13. Juli an Max Brod:


Du hast das Fräulein Kirchner für dumm gehalten. Nun schreibt sie mir aber 2 Karten, die mindestens aus einem unteren Himmel der deutschen Sprache kommen. Ich schreibe sie wörtlich ab:

Sehr geehrter Herr Dr. Kafka!

Für die liebenswürdige Sendung der Karten und freundliches Gedenken, erlaube mir Ihnen besten Dank zu sagen. Auf dem Ball habe ich mich gut amüsiert, bin erst mit meinen Eltern morgens 1/2 5 Uhr nach Hause gekommen. Auch war der Sonntag in Tiefurt ganz nett. Sie fragen, ob es mir Vergnügen macht, Karten von Ihnen zu erhalten; darauf kann ich nur erwidern, dass es mir und meinen Eltern eine große Freude sein wird, von Ihnen zu hören. Sitze so gern im Garten am Pavillon und gedenke Ihrer. Wie geht es Ihnen? Hoffentlich gut. Ein herzliches Lebewohl und freundliche Grüße von mir und meinen Eltern sendet

Es ist bis auf die Unterschrift nachgebildet. Nun? Bedenke vor allem, dass diese Zeilen von Anfang bis zu Ende Litteratur sind. Denn wenn ich ihr nicht unangenehm bin, wie es mir sehr vorkam, so bin ich ihr doch gleichgültig wie ein Topf. Aber warum schreibt sie dann so, wie ich es wünsche? Wenn es wahr wäre, dass man Mädchen mit der Schrift binden kann!


Die Unterschrift »Margarethe Kirchner« versuchte Kafka in der fremden Handschrift nachzuahmen (siehe Abbildung). — Obwohl er ihre Karte für »Litteratur« hielt (und das heißt in diesem Kontext: Lüge, Verstellung, Maske), scheint er ihr nochmals geantwortet zu haben, denn noch vor seiner Abreise aus Jungborn sandte sie ihm einen Brief mit drei Fotografien (die leider nicht mehr auffindbar sind). Dennoch vermied es Kafka, auf der Rückreise nach Prag den Weg über Weimar zu nehmen: offenbar, um sich nicht der Versuchung auszusetzen, dort auszusteigen.



Quelle: Franz Kafka, Briefe 1900–1912, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1999, Seite 159f und 514.