Kafka ist wütend

An Paul Kisch
München, 5. Dezember 1903

Du verfluchter Kerl, Du bist der einzige an den ich nur mit Wuth habe denken können. Das hier ist also die fünfte Karte. Ich bitte um die Adressen, bitte bitte, sollte ich am Ende auf den Knien nach Prag rutschen? Na warte!

Dein Franz   


Paul Kisch (1883–1944), ein Bruder von Egon Erwin Kisch, war Klassenkamerad Kafkas am Altstädter Gymnasium. Als Kisch im Herbst 1901 nach München übersiedelte, um dort Germanistik zu studieren, wollte Kafka es ihm zunächst gleichtun, blieb dann aber doch an der Prager Deutschen Universität. Kisch wiederum kehrte schon nach einem Semester nach Prag zurück.

Als der 20jährige Kafka zum erstenmal nach München reiste (24. November bis 5. Dezember 1903), hatte ihn Kisch zweifellos gut unterrichtet über die dortigen Literatentreffpunkte. Außerdem studierte in München Emil Utitz, ein weiterer Mitschüler. Das Bildmotiv der Postkarte lässt vermuten, dass Kafka auch das berühmte Kabarett ›Die Elf Scharfrichter‹ besuchte, in dem unter anderen Frank Wedekind mit Liedern und Balladen auftrat.

Von den fünf Postkarten, die Kafka in München an Kisch schrieb, sind nur vier erhalten; diese ist die letzte, eingeworfen offenbar erst während der Rückreise in Nürnberg. Mit der ersten Karte vom 26. November hatte Kafka die Adresse mitgeteilt, unter der er in München zu erreichen war (Pension Lorenz, Sophienstraße 15, 3. Stock). Doch Kisch meldete sich nicht, obwohl Kafka für ihn einige Einkäufe erledigen sollte (darauf beziehen sich die »Adressen«, nach denen er Kisch fragt).

Nach dieser wohl halb gespielten, halb echten Anwandlung von Zorn scheint es zwischen den Freunden zu einer Entfremdung gekommen zu sein, denn weitere Korrespondenz zwischen ihnen ist nicht überliefert. Auch die Tatsache, dass Kisch in Prag einer schlagenden Studentenverbindung beitrat und einen immer ausgeprägteren deutschnationalen Habitus annahm, wird Kafka wohl kaum erfreut haben.



Quelle: Franz Kafka, Briefe 1900–1912, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main 1999 (S.Fischer), Seite 32 und 404.