Kafkas Briefen und Tagebüchern ist zu entnehmen, dass er auffallend häufig zu privatesten Sorgen um Rat gefragt wurde, bisweilen auch von ferner stehenden oder sogar völlig fremden Menschen. So wurde er Anfang 1914 von Albert Anzenbacher, den er wahrscheinlich nur als Kollegen der ›Arbeiter-
A. hat sie in folgender Weise ausgefragt: Wie war es? Ich will es ganz genau wissen? Hat er Dich nur geküsst? Wie oft? Wohin? Ist er nicht auf Dir gelegen? Hat er Dich betastet? Wollte er Deine Kleider ausziehn?
Antworten: Ich sass auf dem Kanapee mit der Handarbeit, er an der andern Seite des Tisches. Dann kam er herüber, setzte sich zu mir und küsste mich, ich rückte von ihm weg zum Kanapeepolster und wurde mit dem Kopf auf das Polster gedrückt. Ausser dem Küssen geschah nichts.
Anzenbacher gab sich damit jedoch nicht zufrieden; weder ein ausführlicher Briefwechsel mit der Braut noch die Argumente, die Kafka für die wahrscheinliche Treue der Frau anführte, vermochten ihn zu beruhigen. Am 2. Februar schreibt Kafka:
Gestern war A[nzenbacher] in Schluckenau. Sitzt den ganzen Tag mit ihr im Zimmer und hört, das Packet mit sämtlichen Briefen (sein einziges Gepäck) in der Hand, nicht auf, sie auszufragen. Erfährt nichts Neues, eine Stunde vor der Abfahrt fragt er: »war während des Küssens ausgelöscht?« und erfährt die ihn trostlos machende Neuigkeit, dass W. während des (zweiten) Küssens ausgelöscht hat. W. zeichnete an der einen Seite des Tisches, L. sass an der andern Seite (in W.'s Zimmer, um 11 Uhr abends) und las ›Asmus Semper‹ vor. Da steht W. auf, geht zum Kasten um etwas zu holen (L. glaubt einen Cirkel, A. glaubt ein Präservativ) löscht dann plötzlich aus, überfällt sie mit Küssen, sie sinkt gegen das Kanapee, er hält sie an den Armen, an den Schultern und sagt zwischendurch ›Küsse mich!‹ [...] A: Ich muss doch Klarheit haben (er denkt daran, sie vom Arzt untersuchen zu lassen) wie wenn ich dann in der Hochzeitsnacht erfahre, dass sie gelogen hat. Vielleicht ist sie nur deshalb so ruhig, weil er ein Präs. benützt hat.
Ob diese Befürchtung sich bewahrheitete, ist nicht überliefert. Anzenbacher heiratete Elisabeth Rämisch im August 1914. Er wurde schon zu Beginn des Krieges eingezogen und diente als Offizier. 1916 wurde er bei Przemyśl (Galizien) von einem russischen Bajonett durchbohrt.
Elisabeth Rämisch heiratete 1924 ein zweites Mal – einen Lehrer. Sie starb bereits 1931, im Alter von 37 Jahren.