Sehr geehrter Herausgeber, gerne habe ich Ihren Vorschlag, meine Erinnerungen an meinen verstorbenen Freund Franz Kafka aufzuschreiben, angenommen. Doch sobald ich zur Feder griff, um dies zu tun, wandelte sich meine Freude in Leid, und ich sann nach und suchte lange in meinen Erinnerungen. Trotz der vielen Jahre, die ich in seiner Nähe verbringen durfte, finde ich fast gar nichts, um Ihren Durst und den Durst Ihrer Leser zu stillen und einige lnformationen über diesen erstaunlichen Menschen hinzuzufügen. Vielleicht, werden Sie sagen, ist dies eine Folge des Vergessens? Eher nicht, denn es vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht an ihn erinnere, das heißt an die Stärke seiner außerordentlichen Persönlichkeit. Aber ich kann mich an kein konkretes Detail und an nichts Ungewöhnliches erinnern. Womit könnte man dies vergleichen? Mit der Geschichte jenes Schülers des Baal-
Kafka war ein absolut origineller Mensch. Ein Dichter, dessen Eigenart es war, seine Originalität so gut wie möglich zu verbergen und sich den Leuten gerade als ein ganz gewöhnlicher Mensch und als einer von ihnen zu zeigen. Auf diese Art, wie um uns zu ärgern, hat er mir nichts hinterlassen, an das ich mich beim Schreiben dieser Erinnerungen halten könnte. Ich erinnere mich zwar noch gut an sein trockenes Lachen, an seine behutsamen Bewegungen, an seinen eleganten Stil zu sprechen – übrigens habe ich den Ausdruck »eleganter Stil« von ihm gelernt –, aber was hat dies alles mit dem Schreiben von Erinnerungen zu tun? Nur eines weiß ich gewiß: daß er einen großen Einfluß auf mich hatte, daß ich viel von ihm gelernt habe und ihm zu großem Dank für vieles verpflichtet hin. Von ihm habe ich zum Beispiel gelernt, daß der Mensch jeden Tag ein Gedicht lesen muß. Eines und nicht zwei, so hat er es mir immer wieder geboten, und die Worte des Weisen sind immer lieblich. Mehr könne kein Kopf aushalten. Als meine ersten Gedichte in Elieser Steinmanns Zeitschrift »Kolot« erschienen, sagte Kafka mir, sie hätten eine gewisse Ähnlichkeit mit der chinesischen Lvrik. Ich ging und kaufte mir eine Sammlung chinesischer Lyrik in der französischen Übersetzung von Franz Toussaint, und seitdem liegt dieses schöne Buch immer auf meinem Tisch. Ich sagte, Kafka habe meine Gedichte gelesen. Das bedeutet, daß er Ivrith konnte, und daß diejenigen, die ihre Erinnerungen über ihn niederschrieben, dieses Detail nicht aufgeschrieben haben. Ja. Kafka sprach Ivrith. In seinen letzten Jahren haben wir die ganze Zeit Ivrith gesprochen. Er, der immer wieder beteuerte, er sei kein Zionist, hat unsere Sprache in erwachsenem Alter und mit großem Fleiß gelernt. Und anders als die Prager Zionisten, sprach er fließend Hebräisch, was ihm eine besondere Befriedigung bereitete, und ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß er insgeheim stolz darauf war. Zum Beispiel einmal, als wir in der Straßenbahn fuhren und uns über die Flugzeuge unterhielten, die in diesem Moment über uns am Himmel Prags kreisten, da fragten uns die Tschechen, die mit uns fuhren, als sie die Klänge unserer Sprache hörten, die sie wohl als wohlklingend empfanden, was für eine Sprache wir denn sprechen würden. Und als wir ihnen antworteten, welche Sprache das sei und worüber wir gerade geredet hätten, staunten sie sehr, daß man auf Ivrith sogar über Flugzeuge sprechen könne… Wie sehr leuchtete da Kafkas Gesicht vor Freude und Stolz! Und so freute er sich über jedes Wort Hebräisch, das er von mir lernte, wie einer, der große Beute gemacht hat. Ich nehme an, daß er zu seinem eigenen Vergnügen auch Ivrith gelesen hat, doch er mochte nicht die verquatschten Dichter, die viele Worte machen und absichtlich seltene Wörter benutzen. Über die hat er mir einmal gesagt: Sie wollen zeigen, daß sie sich gut im hebräischen Lexikon auskennen. Er war kein Zionist, aber er beneidete zutiefst jene, die den großen Grundsatz des Zionismus selbst verwirklichten, was schlicht bedeutet, nach Erez Israel einzuwandern. Er war kein Zionist, aber alles, was in unserem Land passierte, bewegte ihn sehr. Besonders interessierte er sich für das Wirken der erez-
Er war wirklich ein sonderbarer Mensch.
Einmal offenbarte er mir seinen Wunsch, alle seine noch nicht veröffentlichen Schriften zu verbrennen. »Wenn dem wirklich so ist«, fragte ich ihn, »warum schreibst und veröffentlichst du dann überhaupt?« »Das weiß ich nicht genau«, antwortete Kafka mir, »irgend etwas drängt mich, eine Erinnerung zu hinterlassen, trotz allem…« Und tatsächlich verbrannte er danach einen Großteil seiner Schriften. Schade, wie schade, daß sie untergegangen sind.
Kafkas besonderer Humor, der mit Bitterkeit und Trockenheit einherging, blieb ihm bis in seine letzte Stunde erhalten. Als diese gekommen war, wollte der Arzt, der ihn behandelte, die Türe aufmachen. Damit der Kranke aber nicht den Verdacht schöpfte, er wolle ihn alleine lassen, stand er auf und sagte: »Ich gehe hier nicht weg.« »Aber ich gehe hier weg«, antwortete Kafka und hauchte seine Seele aus.
Dies ist vielleicht der Ort, eine merkwürdige Begebenheit zu berichten, die zwar in keinerlei Zusammenhang mit Kafka selbst steht – wir sind doch alle aufgeklärte Leute, ohne jeden Makel von Aberglauben –, und trotzdem führe ich sie allein zu dem Zwecke an, um etwas zu illustrieren. Denn wenn er dies bewirkt hätte, so würden wir zu recht sagen, daß diese Sache charakteristischer für ihn ist als hundert andere Taten. Es begab sich lange nach seinem Tod, im Hause unseres gemeinsamen Freundes Max Brod. Der hatte es auf sich genommen, die wenigen übriggebliebenen Texte des verstorbenen Kafka zu ordnen und zu veröffentlichen. Unnötig zu sagen, daß er mit diesen Schriften vertrauenswürdig umging, sie hoch schätzte und sie wie seinen Augapfel hütete. Und siehe, eines Abends besuchte ihn ein bekannter Schriftsteller, und Brod wollte ihm die Handschriften Kafkas zeigen, in die er niemandem so leicht Einblick gewährte, außer diesem Mann, einfach weil das Anschauen ihnen Schaden zufügen könne. Er war bereits dabei, die Schriften aus ihren Mappen zu holen und wollte sie gerade dem Gast zeigen. Doch in diesem Moment verlosch das Licht im ganzen Haus und ebenso in den Nachbarhäusern aufgrund eines Zwischenfalls in der Stromversorgung, und der ehrenwerte Gast ging enttäuscht nach Hause; er hatte auch nicht einen Buchstaben gesehen.
Wie gesagt, man muß dieser Tatsache keinerlei Bedeutung beimessen, und ich erwähne es nur als ein Beispiel. In jedem Fall enden hiermit meine gegenwärtigen Erinnerungen an Kafka. Sollte mir noch etwas einfallen, werde ich natürlich nicht zögern, es für Sie und für Ihre Leser sogleich aufzuschreiben.
Hochachtungsvoll
Mordechai Georgo Langer
Tel Aviv, 17. Schewat 5701 (14. Februar 1941)
Georg (Jiří) Mordechai Langer (1894–1943), ein entfernter Verwandter Max Brods, lernte Kafka vermutlich im Sommer 1915 kennen. Zu diesem Zeitpunkt war er Anhänger des Chassidismus und hatte auch schon einige Monate am ›Hof‹ eines ›Wunderrabbi‹ gelebt (in seinem Buch Neun Tore hat er später darüber berichtet). Das daraus resultierende Insider-
Quelle: Georg Mordechai Langer, ›Etwas über Franz Kafka‹, in: »Als Kafka mir entgegenkam…« Erinnerungen an Franz Kafka. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Erweiterte Neuausgabe, Berlin (Wagenbach) 2005. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Online-