Traum vom Ritterschwert

Ich hatte mit zwei Freunden einen Ausflug für den Sonntag vereinbart, verschlief aber gänzlich unerwarteter Weise die Stunde der Zusammenkunft. Meine Freunde, die meine sonstige Pünktlichkeit kannten, staunten darüber, giengen zu dem Haus in dem ich wohnte, standen auch dort noch eine Zeitlang, giengen dann die Treppe hinauf und klopften an meiner Tür. Ich erschrak sehr, sprang aus dem Bett und achtete auf nichts anderes, als darauf mich möglichst rasch bereitzumachen. Als ich dann vollständig angezogen aus der Türe trat, wichen meine Freunde offenbar erschrocken vor mir zurück. »Was hast Du hinter dem Kopf« riefen sie. Ich hatte schon seit dem Erwachen irgendetwas gefühlt, das mich hinderte den Kopf zurückzuneigen und tastete nun mit der Hand nach diesem Hindernis. Gerade riefen die Freunde, die sich schon ein wenig gesammelt hatten »Sei vorsichtig, verletze Dich nicht« als ich hinter meinem Kopf den Griff eines Schwertes erfaßte. Die Freunde kamen näher, untersuchten mich, führten mich ins Zimmer vor den Schrankspiegel und entkleideten meinen Oberkörper. Ein großes altes Ritterschwert mit kreuzartigem Griff steckte in meinem Rücken bis zum Heft, aber in der Weise, daß sich die Klinge unbegreiflich genau zwischen Haut und Fleisch geschoben und keine Verletzung herbeigeführt hatte. Aber auch an der Stelle des Einstoßes am Halse war keine Wunde, die Freunde versicherten, daß sich dort völlig blutleer und trocken der für die Klinge notwendige Spalt geöffnet habe. Und als jetzt die Freunde auf Sessel stiegen und langsam millimeterweise das Schwert hervorzogen, kam kein Blut nach und die offene Stelle am Halse schloß sich bis auf einen kaum merklichen Spalt. »Hier hast Du Dein Schwert« sagten die Freunde lachend und reichten es mir. Ich wog es in beiden Händen, es war eine kostbare Waffe, Kreuzfahrer konnten sie wohl benützt haben. Wer duldete es, daß sich alte Ritter in den Träumen herumtrieben, verantwortungslos mit ihren Schwertern fuchtelten, unschuldigen Schläfern sie einbohrten und nur deshalb nicht schwere Wunden beibrachten, weil ihre Waffen zunächst wahrscheinlich an lebenden Körpern abgleiten und weil auch treue Freunde hinter der Tür stehn und hilfsbereit klopfen.



Dieser Text findet sich in Kafkas Tagebuch unter dem Datum des 19. Januar 1915. Er trägt keinen Titel, ist auch niemals separat oder überhaupt als ›Werk‹ veröffentlicht worden. Die formale Geschlossenheit macht es jedoch wahrscheinlich, dass Kafka keine Fortsetzung plante und den Text als ›fertig‹ betrachtete.

Den zweiten Satz »Meine Freunde, die meine sonstige Pünktlichkeit kannten ...« muss man wohl als ironische Anspielung lesen. Denn Kafka war notorisch unpünktlich und hatte sich bei seinen Prager Freunden, mit denen er tatsächlich zuweilen sonntägliche Ausflüge machte, schon häufig dafür entschuldigen müssen.

Die Tagebuchnotiz vom folgenden Tag beginnt mit den Worten: »Ende des Schreibens.« Das bezieht sich jedoch nicht auf das kurze Prosastück, sondern vor allem auf den Roman Der Process, den Kafka aufgrund zahlreicher äußerer Störungen nicht vollenden konnte.

Veröffentlicht in: Franz Kafka, Tagebücher, Band 3: 1914–1923, Fischer Taschenbuch Verlag (Bd. 12451), Frankfurt am Main 1994, Seite 71–72.