Der Storch im Zimmer

Als ich abend nachhause kam, fand ich in der Mitte des Zimmers ein grosses ein übergrosses Ei. Es war fast so hoch wie der Tisch und entsprechend ausgebaucht. Leise schwankte es hin und her. Ich war sehr neugierig, nahm das Ei zwischen die Beine und schnitt es vorsichtig mit dem Taschenmesser entzwei. Es war schon ausgetragen. Zerknitternd fiel die Schale auseinander und hervorsprang ein storchartiger, noch federloser, mit zu kurzen Flügeln die Luft schlagender Vogel. »Was willst Du in unserer Welt?« hatte ich Lust zu fragen, hockte mich vor den Vogel nieder und sah ihm in seine ängstlich zwinkernden Augen. Aber er verliess mich, und hüpfte die Wände entlang, halb flatternd, wie auf wehen Füssen. »Einer hilft dem andern«, dachte ich, packte auf dem Tisch mein Abendessen aus und winkte dem Vogel, der drüben gerade seinen Schnabel zwischen meine paar Bücher bohrte. Gleich kam er zu mir, setzte sich, offenbar schon ein wenig eingewöhnt, auf einen Stuhl, mit pfeifendem Atem begann er die Wurstschnitte die ich vor ihn gelegt hatte zu beschnuppern, spiesste sie aber lediglich auf und warf sie mir wieder hin. »Ein Fehler«, dachte ich, »natürlich, man springt nicht aus dem Ei um gleich mit Wurstessen anzufangen. Hier wäre Frauenerfahrung nötig.« Und ich sah ihn scharf an, ob ihm vielleicht seine Essenswünsche von aussen abzulesen wären. »Kommt er«, fiel mir dann ein, »aus der Familie der Störche, dann werden ihm gewiss Fische lieb sein. Nun ich bin bereit sogar Fische ihm zu verschaffen. Allerdings nicht umsonst. Meine Mittel erlauben mir nicht mir einen Hausvogel zu halten. Bringe ich also solche Opfer, will ich einen gleichwertigen lebenerhaltenden Gegendienst. Er ist ein Storch, möge er mich also bis er ausgewachsen und von meinen Fischen gemästet ist, mit in die südlichen Länder nehmen. Längst schon verlangt es mich dorthin zu reisen und nur mangels Storchflügel habe ich es bisher unterlassen.« Sofort holte ich Papier und Tinte, tauchte des Vogels Schnabel ein und schrieb, ohne dass mir vom Vogel irgendein Widerstand entgegengesetzt worden wäre, folgendes: »Ich, storchartiger Vogel, verpflichte mich für den Fall, dass Du mich mit Fischen, Fröschen und Würmern (diese zwei letztern Lebensmittel fügte ich der Billigkeit halber hinzu) bis zum Flüggewerden nährst, Dich auf meinem Rücken in die südlichen Länder zu tragen.« Dann wischte ich den Schnabel rein und hielt dem Vogel nochmals das Papier vor Augen, ehe ich es zusammenfaltete und in meine Brieftasche legte. Dann aber lief ich gleich um Fische; diesmal musste ich sie teuer bezahlen, doch versprach mir der Händler nächstens immer verdorbene Fische und reichlich Würmer für billigen Preis bereitzustellen. Vielleicht würde die südliche Fahrt nicht gar zu teuer werden. Und es freute mich zu sehn wie das Mitgebrachte dem Vogel schmeckte. Glucksend wurden die Fische hinabgeschluckt und füllten das rötliche Bäuchlein. Tag für Tag, unvergleichlich mit Menschenkindern, machte der Vogel Fortschritte in seiner Entwicklung. Zwar verliess der unerträgliche Gestank der faulen Fische nicht mehr mein Zimmer und nicht leicht war es, den Unrat des Vogels immer aufzufinden und zu beseitigen, auch verbot die Winterkälte und die Kohlenteuerung die ausserordentlich nötige Lüftung – was tat es, kam das Frühjahr, schwamm ich in leichten Lüften dem strahlenden Süden zu. Die Flügel wuchsen, bedeckten sich mit Federn, die Muskeln erstarkten, es war Zeit mit den Flugübungen zu beginnen. Leider war keine Storchmutter da, wäre der Vogel nicht so willig gewesen, mein Unterricht hätte wohl nicht genügt. Aber offenbar sah er ein, dass er durch peinliche Aufmerksamkeit und grösste Anstrengung die Mängel meiner Lehrbefähigung ausgleichen müsse. Wir begannen mit dem Sesselflug. Ich stieg hinauf, er folgte, ich sprang mit ausgebreiteten Armen hinab, er flatterte hinterher. Später giengen wir zum Tisch über und zuletzt zum Schrank, immer aber wurden alle Flüge systematisch vielemal wiederholt.



Das titellose Fragment findet sich im sogenannten ›Oktavheft C‹. Es entstand im März 1917 sehr wahrscheinlich in dem von Kafkas Schwester Ottla angemieteten Häuschen in der Alchimistengasse auf dem Prager Hradschin.



Quelle: Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hrsg. von Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1993, S. 365-367.