Slapstick im Gericht

Man erzählt zum Beispiel folgende Geschichte, die sehr den Anschein der Wahrheit hat. Ein alter Beamter, ein guter stiller Herr, hatte eine schwierige Gerichtssache, welche besonders durch die Eingaben des Advokaten verwickelt worden war, einen Tag und eine Nacht ununterbrochen studiert – diese Beamten sind tatsächlich fleissig wie niemand sonst. Gegen Morgen nun, nach vierundzwanzigstündiger wahrscheinlich nicht sehr ergiebiger Arbeit, ging er zur Eingangstür, stellte sich dort in Hinterhalt und warf jeden Advokaten, der eintreten wollte, die Treppe hinunter. Die Advokaten sammelten sich unten auf dem Treppenabsatz und berieten, was sie tun sollten. Einerseits haben sie keinen eigentlichen Anspruch darauf, eingelassen zu werden, können daher rechtlich gegen den Beamten kaum etwas unternehmen und müssen sich, wie schon erwähnt, auch hüten, die Beamtenschaft gegen sich aufzubringen. Andererseits aber ist jeder nicht bei Gericht verbrachte Tag für sie verloren, und es lag ihnen also viel daran einzudringen. Schliesslich einigten sie sich darauf, dass sie den alten Herrn ermüden wollten. Immer wieder wurde ein Advokat ausgeschickt, der die Treppe hinauf lief und sich dann unter möglichstem, allerdings passivem Widerstand hinunterwerfen liess, wo er dann von den Kollegen aufgefangen wurde. Das dauerte etwa eine Stunde, dann wurde der alte Herr, er war ja auch von der Nachtarbeit schon erschöpft, wirklich müde und ging in seine Kanzlei zurück. Die unten wollten es zuerst gar nicht glauben und schickten zuerst einen aus, der hinter der Tür nachsehn sollte, ob dort wirklich leer war. Dann erst zogen sie ein und wagten wahrscheinlich nicht einmal zu murren.



Die Szene aus dem Roman Der Process ist eines der Beispiele dafür, dass Kafka auch in seinen vielfach als düster oder fatalistisch empfundenen Hauptwerken typische Motive des Slapstick einbaute, die er sehr wahrscheinlich dem frühen Stummfilm abgeschaut hatte. Derartige Szenen einer körperlich agierenden Komik gibt es auch im Verschollenen und selbst im Schloss-Roman, obwohl Kafka, als er dieses späte Werk verfasste, bei weitem nicht mehr so häufig ins Kino ging wie noch vor dem Krieg.



Quelle: Franz Kafka, Der Proceß, hrsg. von Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1990, S. 158f.