Kafka fiel es zeitlebens außerordentlich schwer, bewusst die Unwahrheit zu sagen. So zeigt etwa der Vergleich zwischen seinen Tagebüchern und den gleichzeitigen Korrespondenzen, dass er sehr wohl Tatsachen verschweigen konnte oder dass er sie – je nach Adressat – in einem anderen Licht darstellte. Es finden sich jedoch so gut wie keine Beispiele für ausgesprochene Lügen oder Notlügen.
Eine bemerkenswerte Ausnahme gestattete sich Kafka am Morgen des 23. September 1912. In der Nacht zuvor hatte er keinen Augenblick geschlafen, sondern seine Erzählung Das Urteil niedergeschrieben, und sowohl die Erschöpfung als auch der narzisstische Überschwang nach dieser Leistung – die er sofort als schöpferischen Durchbruch empfand – machten es ihm unmöglich, sich wie gewohnt gegen 7.45 Uhr ins Büro zu begeben. Statt dessen schickte er eine Nachricht an seinen Vorgesetzten Eugen Pfohl: Wegen Fiebers und eines »kleinen Ohnmachtsanfalls« könne er wohl erst am Nachmittag zum Dienst erscheinen, aber er komme »bestimmt« (siehe das Faksimile, die Rückseite einer Visitenkarte). Doch Kafka blieb zu Hause und musste dann am folgenden Tag die besorgten Nachfragen seiner Kollegen ertragen und ein wenig Komödie spielen.
Beschwichtigen konnte Kafka seine Skrupel gegenüber Lügen nur dann, wenn sie eindeutig nicht im eigenen Interesse waren. So verschwieg er im Herbst 1917 gegenüber seinen Eltern den Ausbruch der Tuberkuloseerkrankung, und um diese Täuschung aufrecht erhalten zu können, war er gezwungen, für den dreimonatigen Erholungsurlaub, den seine Behörde ihm genehmigte, eine andere Erklärung zu liefern. Man gönne ihm diese Pause wegen seiner »Nervosität«, behauptete Kafka. Dass seine Eltern dies tatsächlich glaubten, ehe sie Monate später doch die Wahrheit erfuhren, ist erstaunlich genug. Denn während des Kriegs wurde den nicht eingezogenen Beamten sogar der reguläre zweiwöchige Urlaub verweigert, und eine Beurlaubung wegen Nervosität war ganz undenkbar.
Eine Lüge gegen das Interesse des anderen, noch dazu mündlich vorzutragen, konnte für Kafka zum unüberwindlichen Problem werden. So gelang es ihm im August 1920 nicht, für eine kurze Reise nach Wien, um den ihn Milena Jesenská händeringend gebeten hatte, Urlaub von seinen wohlwollenden Vorgesetzten zu erlangen. Denn dazu hätte er einen dringenden Anlass, möglichst familiärer Art, vorbringen müssen.
Jesenská, die in dieser Hinsicht weniger skrupulös war, schlug vor, Kafka solle einen Onkel Oskar oder eine Tante Klara erfinden, die schwer erkrankt seien; auch könne er ein fingiertes Telegramm vorlegen. Doch obwohl Kafka ihr versichert hatte, »ich kann auch im Amt lügen, aber nur aus 2 Gründen, aus Angst ... oder aus letzter Not«, nämlich um ihretwillen, konnte er sich nicht dazu durchringen. Das bedeutete einen Wendepunkt der Beziehung. Denn Jesenská verzieh ihm dieses Versagen nicht, trotz der scherzhaften Wendung, die Kafka der Angelegenheit noch zu geben suchte:
Glaubst Du denn ich könnte, von allem andern abgesehn, zum Direktor gehn und ohne zu lachen von der Tante Klara erzählen? ... Also das ist ganz unmöglich. Gut, dass wir sie nicht mehr brauchen. Mag sie sterben, sie ist ja doch nicht allein, Oskar ist bei ihr. Allerdings, wer ist Oskar? Tante Klara ist Tante Klara, aber wer ist Oskar? Immerhin, er ist bei ihr. Hoffentlich wird er nicht auch krank, der Erbschleicher.
Quellen: Visitenkarte an Eugen Pfohl in der Arbeiter-
Vgl. Milena Jesenskás Schilderung dieses Vorfalls in einem Brief an Max Brod, in: dies., »Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang«. Die Briefe von Milena, hrsg. von Alena Wagnerová, Mannheim 1996, S. 42. (Die Datierung dieses Briefs auf »Anfang August 1920« erscheint zweifelhaft: Zu diesem Zeitpunkt war über Kafkas Reise nach Wien noch gar nicht endgültig entschieden, Jesenská aber schreibt: »Es war mir damals sehr notwendig.«)
Abbildung: Archiv Klaus Wagenbach, Berlin