Mensch und Schwein

Auf dem Bild ist er [Varieté-Direktor Rolf Wagner] entwaffnend, selbst das vor sich Ausspeien übernimmt er noch, wie seine Lippenstellung in Bild und Wirklichkeit zeigt; Sie deuten das scheinbare Lächeln falsch. Übrigens ist er nicht ganz und gar einzig, wie Sie zu glauben scheinen. Ich will ihn durch den Vergleich mit einem Schwein gar nicht beschimpfen, aber an Merkwürdigkeit, Entschiedenheit, Selbstvergessenheit, Süssigkeit und was noch zu seinem Amt gehört, steht er in der Weltordnung vielleicht doch mit dem Schwein in einer Reihe. Haben Sie schon ein Schwein in der Nähe so genau angesehn, wie Wagner? Es ist erstaunlich. Das Gesicht, ein Menschengesicht, bei dem die Unterlippe über das Kinn hinunter, die Oberlippe, unbeschadet der Augen- und Nasenlöcher bis zur Stirn hinaufgestülpt ist. Und mit diesem Maul-Gesicht wühlt das Schwein tatsächlich in der Erde. Das ist ja an sich selbstverständlich und das Schwein wäre merkwürdig, welches das nicht täte, aber Sie müssen das mir, der es jetzt öfters neben sich gesehn hat, glauben: noch merkwürdiger ist es, das es das tut. Man sollte doch meinen, um irgendeine Feststellung vorzunehmen, genüge es, wenn man das Fragliche mit dem Fuss betastet oder dazu riecht oder im Notfall es in der Nähe beschnuppert – nein, das alles genügt ihm nicht, vielmehr, das Schwein hält sich damit gar nicht auf, sondern fährt gleich und kräftig mit dem Maul hinein und ist es in etwas Ekelhaftes hineingefahren – rings um mich liegen die Ablagerungen meiner Freunde, der Ziegen und Gänse – schnaufts vor Glück. Und – das vor allem erinnert mich irgendwie an Wagner – das Schwein ist am Körper nicht schmutzig, es ist sogar nett (ohne dass allerdings diese Nettigkeit appetitlich wäre) es hat elegante, zart auftretende Füsse und beherrscht seinen Körper irgendwie aus einem einzigen Schwung heraus, – nur eben sein edelster Teil, das Maul, ist unrettbar schweinisch.

Sie sehen liebe Frau Elsa auch wir in Zürau haben unser »Lucerna« und ich wäre glücklich, wenn ich Ihnen zum Dank für das Wagnerbild einen Schinken unseres Schweinchens schicken könnte, aber erstens gehört's mir nicht und zweitens nimmt es bei allem Wohlleben so langsam zu, dass es zu unserer (Ottlas und meiner) Freude noch lange nicht geschlachtet werden kann.



Kafka schrieb diesen Brief an Elsa Brod, die Ehefrau von Max Brod, Anfang Oktober 1917. Er lebte zu dieser Zeit – zum Unverständnis all seiner Freunde – auf einem kleinen Bauernhof im nordwestböhmischen Dorf Zürau, den seine Schwester Ottla mühsam bewirtschaftete.

Elsa Brod hatte ihm in einem Brief sehr ausführlich von einem Abend im Prager Kabarett ›Lucerna‹ berichtet und auch ein Porträt des damaligen Direktors beigelegt, des Komikers Rolf Wagner. In früheren Jahren hatte auch Kafka das ›Lucerna‹ regelmäßig besucht, und so diente die Schilderung des Unterhaltungsprogramms wohl insgeheim dem Zweck, Kafka an die Lockungen des Stadtlebens zu erinnern und ihn zur Rückkehr nach Prag zu bewegen. Die Komik seiner Antwort besteht also nicht nur im spielerischen Vergleich von Mensch und Schwein, sondern auch darin, dass er ausgerechnet einen Exponenten des städtischen Nachtlebens mit bäuerlichen Assoziationen ausstattet.



Quelle: Brief an Elsa und Max Brod, 2./3. Oktober 1917, in: Franz Kafka, Briefe. April 1914–1917, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S.Fischer) 2005, S. 339f. Brief von Elsa und Max Brod an Kafka, 29. September 1917, ebd., S. 751.

Foto: Hartmut Binder, Ditzingen