Es ist charakteristisch für Kafkas erzählerische Prosa, dass örtliche und zeitliche Bestimmungen zumeist unscharf bleiben und der Leser daher unter dem Eindruck steht, alles spiele sich in einem gespenstischen Zwischenreich, einem Nirgendwo ab – wie im Traum. So wird niemals der Name der Stadt genannt, in der sich Der Process vollzieht, und auch das Dorf am Fuß des Schlosses bleibt namenlos.
Die einzige bedeutsame Ausnahme von dieser Regel ist der 1912/13 entstandene Roman Der Verschollene. Obwohl Kafka die USA nur aus Reisebüchern, Vorträgen und mündlichen Berichten kannte, hatte er sich dennoch vorgenommen, »das allermodernste New Jork« zu schildern, wie er gegenüber seinem Verleger Kurt Wolff bekannte. Daher sind viele Örtlichkeiten korrekt benannt, und bemerkenswerterweise ist Der Verschollene auch der einzige erzählerische Text Kafkas, in dem ausdrücklich von Prag die Rede ist.
Um so auffallender, dass Kafka im Manuskript dieses Romans einige sonderbare Irrtümer unterliefen. Offenbar machte er sich bei seinen Recherchen keine systematischen Notizen, sondern verließ sich auf sein Gedächtnis: So kam es, dass er etwa eine wiederholt falsche Schreibweise aus Arthur Holitschers sozialkritischer Reportage Amerika – heute und morgen übernahm und »Oklahama« anstelle von »Oklahoma« schrieb. Auch ist von einer Brücke die Rede, »die New York mit Boston verbindet« – wobei Kafka natürlich die von zahlreichen Abbildungen bekannte Brooklyn Bridge vor Augen hatte. Schließlich verlegte er San Francisco auf die falsche Seite des Kontinents: Sein Protagonist Karl Rossmann wird zu einer Reise nach »Frisco« genötigt, da für ihn »die Erwerbsmöglichkeiten im Osten viel bessere« seien.
Die erstaunlichste und offenbar gewollte Abweichung seiner Romanwelt von der Wirklichkeit findet sich indessen schon im allerersten Absatz: Die Freiheitsstatue, die alle New York-
Quellen: Brief an Kurt Wolff, 25. Mai 1913, in: Franz Kafka, Briefe 1913–1914, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1999, S. 196f. Franz Kafka, Der Verschollene, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1983, S. 124, 144 u. 387.
Fotos: George Grantham Bain Collection, Library of Congress, Washington, D.C. – Arthur Holitscher, Amerika – heute und morgen, Berlin (S.Fischer) 1912, S. 367.