Kafka mogelt beim Abitur
Gustav A. Lindner

In seinem berühmten hundertseitigen Brief an den Vater bekennt Kafka, er habe 1901 das Maturitätsexamen (Abitur) zum Teil nur durch Schwindel bestanden. Wie dies vor sich ging, schildert der Mediziner Hugo Hecht (1883-1970), ein langjähriger Klassenkamerad Kafkas, in seinen unveröffentlichten Erinnerungen. Besonders gefürchtet, schreibt Hecht, sei die mündliche Prüfung in Griechisch gewesen. Zwar galt der Griechischlehrer Gustav Adolf Lindner als nachsichtig und wenig anspruchsvoll, doch wurde jedem Schüler ein anderer Text zur Übersetzung ins Deutsche vorgelegt, so dass eine zielgenaue Vorbereitung unmöglich war.


Es war klar, dass es nur einen Weg gab, um zu lernen, was wir brauchten – nämlich ein kleines Notizbuch in die Hände zu bekommen, in dem unser Griechischlehrer (Lindner) die genauen Informationen verwahrte: den Text, der von jedem Schüler übersetzt werden musste, von Autoren, die wir niemals während unserer Schulzeit gelesen hatten. Der einfachste Plan schien zu sein, die junge und gut aussehende Haushälterin unseres Junggesellen und Gymnasialprofessors zu bestechen, das Notizbuch aus seiner Tasche zu nehmen und es uns für kurze Zeit zu leihen, so dass wir dessen wichtigen Teil kopieren konnten. Wir brachten Geld zusammen und vertrauten es einem der Ältesten in unserer Klasse an, der schon einen guten Ruf als Frauenheld hatte, mit dem Auftrag, mit der Haushälterin Bekanntschaft zu schließen. So geschah es: Er führte sie mehrmals zum Dinner, zum Tanz und ins Theater aus, und drei Wochen später warteten wir gespannt an einem Samstagabend in einem nahegelegenen Kaffeehaus auf das Notizbuch. Wir erhielten es tatsächlich, kopierten die ersehnten Notizen ab, und eine Stunde später war es wieder in der Tasche des Professors. Einer der Kopisten war unser Kafka. Natürlich bestanden wir unsere mündliche Griechisch-Prüfung alle mit wehenden Fahnen – wir hatten die Vorkehrung getroffen, dass die Schwächeren einige Fehler und Irrtümer einstreuen mussten, um keinen Verdacht zu erregen. Der Vorsitzende der Kommission war sehr erfreut, wie auch unser Professor: Er erhielt sogar eine spezielle Empfehlung für seine herausragenden Ergebnisse mit einer durchschnittlichen Klasse und war stolz darüber.



Quellen: Franz Kafka, Brief an den Vater, in: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hrsg. von Jost Schillemeit, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1992, S. 197. Hugo Hecht, People, Places and Events in Franz Kafka's Tragedy. With Some Autobiographical Remarks (unpubliziert), S. 197; zitiert nach: Hartmut Binder, Kafkas Welt, Reinbek 2008, S. 68. Siehe auch Hugo Hecht, ›Zwölf Jahre in der Schule mit Franz Kafka‹, in: Hans-Gerd Koch (Hrsg.), »Als Kafka mir entgegenkam…«. Erinnerungen an Franz Kafka, erweiterte Neuausgabe, Berlin 2005, S. 32-43.