Nicht immer war mir in der letzten Zeit so schlecht, es war auch schon zeitweilig sehr gut, mein Hauptehrentag war aber etwa vor einer Woche. Ich mache in meiner ganzen Ohnmacht den endlosen Bassin-
Zum Zeitpunkt dieses anekdotischen Erlebnisses war Kafka bereits 37 Jahre alt, wurde jedoch wegen seines mageren, knabenhaften Körpers offenbar von gleich mehreren Personen auf höchstens zwanzig geschätzt. Noch kurioser wird der Vorfall, bedenkt man, dass Kafka nicht nur promovierter Jurist und Abteilungsleiter, sondern auch ein sehr geübter Schwimmer und Ruderer war, der jahrelang sogar ein eigenes Boot auf der Moldau besaß – keineswegs selbstverständlich zu einer Zeit, da noch viele Erwachsene Nichtschwimmer waren und Rudern als unbürgerlich galt. Allerdings hatte die Geschichte auch einen makabren Zug, wie der Adressatin des Briefs, Milena Pollak (geb. Jesenská), sicherlich bewusst war. Denn seit drei Jahren litt Kafka an Lungentuberkulose, und bereits beim schnellen Gehen machte sich diese Krankheit mit Atemnot bemerkbar. Das flotte Rudern muss für Kafka äußerst strapaziös gewesen sein, und dass er sich während der Überfahrt mit seinem Passagier nicht unterhalten konnte, ist daher nicht verwunderlich.
Die ›Schwimmschule‹ war eine von Kafka häufig aufgesuchte öffentliche Flussbadeanstalt an der Sophieninsel (heute Slovanský ostrov), die ›Judeninsel‹ (heute Dětský ostrov) liegt unmittelbar gegenüber am linken Ufer der Moldau. Der »Hauptehrentag« spielt darauf an, dass Milena am Tag dieses Briefes 24 Jahre alt wurde; der kleine Seitenhieb wegen des Trinkgelds (»ja, wenn man kein Mädchen ist«) bezieht sich darauf, dass Milena als Gepäckträgerin am Wiener Westbahnhof gute Trinkgelder bekommen hatte.
Quelle: Brief an Milena Pollak, 10. August 1920, in: Franz Kafka, Briefe an Milena, Frankfurt am Main 1983, S. 204-206.