Gespräch unter Bauern

Eben habe ich vor meinem Balkon ein landwirtschaftliches Gespräch gehört, das auch den Vater interessiert hätte. Ein Bauer gräbt aus einer Grube Rübenschnitte aus. Ein Bekannter, der offenbar nicht sehr gesprächig ist, geht nebenan auf der Landstrasse vorüber. Der Bauer grüsst, der Bekannte in der Meinung, ungestört vorbeigehn zu können, antwortet freundlich: ›Awua‹. Aber der Bauer ruft ihm nach, dass er hier feines Sauerkraut habe, der Bekannte versteht nicht genau, dreht sich um und fragt verdriesslich: ›Awua?‹ Der Bauer wiederholt die Bemerkung. Jetzt verstehts der Bekannte, ›Awua‹ sagt er und lächelt verdriesslich. Weiter hat er aber nichts zu sagen, grüsst noch mit ›Awua!‹ und geht. — Es ist hier viel zu hören vom Balkon.



Pension Stüdl

Als Kafka im Februar 1919 Zeuge dieses ›Gesprächs‹ wurde, lag er — fest eingewickelt in Decken — auf einem Balkon der Pension Stüdl in Schelesen (Želízy), einem Dorf nördlich von Prag. Die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, in der Kafka angestellt war, hatte ihm wegen seiner Tuberkulose-Erkrankung einen mehrmonatigen Erholungsurlaub genehmigt.

Die Adressatin der Mitteilung, Kafkas jüngste Schwester Ottla, befand sich zu dieser Zeit im nordböhmischen Friedland, um eine landwirtschaftliche Ausbildung zu absolvieren. Es erging ihr dort nicht sonderlich gut: Zwar bewältigte sie den Unterrichtsstoff und bestand auch das abschließende Examen; doch sie litt unter der Mangelversorgung, die in den deutschböhmischen Grenzgebieten noch lange nach dem Krieg anhielt, und sie war dem Unverständnis und dem Drängen der Eltern ausgesetzt, die sie immer wieder zur Rückkehr nach Prag aufforderten. Vor allem litt sie darunter, dass ihr Vater auf jede Erwähnung landwirtschaftlicher Themen mit Verachtung reagierte; für ihn war es unbegreiflich, dass Ottla nicht dem Vorbild ihrer beiden Schwestern folgte, das heißt, sich auf eine Existenz als Hausfrau und Mutter vorbereitete. Dass Hermann Kafka sich an dem belauschten ›Gespräch‹ hätte erheitern können, ist daher zweifelhaft.



Quelle: Brief an Ottla Kafka, 20. Februar 1919, in: Franz Kafka, Briefe an Ottla und die Familie, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1975, Seite 67.

Foto: Archiv Klaus Wagenbach