Josef K., der Amokläufer

Kafka war Beamter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag. Seine Aufgabe bestand dort hauptsächlich darin, die Versicherungsbeiträge festzulegen, die von den einzelnen Unternehmen im Industriegebiet Nordböhmen zu zahlen waren: Je gefährlicher die Arbeit, desto höher der Beitrag.

Häufig sah Kafka allerdings auch verstümmelte Opfer von Arbeitsunfällen, die vorsprachen, um eine Unfallrente zu beantragen. Max Brod berichtet, Kafka habe sich über diese Bittsteller mit Verwunderung geäußert: »Wie bescheiden diese Menschen sind. Sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten.«

Kafka wusste offenbar nicht, dass es zu derartigen Vorfällen tatsächlich schon gekommen war. So findet sich beispielsweise im Prager Tagblatt vom 31. Dezember 1899 – da ging Kafka noch aufs Gymnasium – die folgende Notiz:

»Ein gefährlicher Bittsteller. Der beschäftigungslose Taglöhner Joseph Kafka aus Rotoř bei Časlau kam vorgestern Mittags in die Unfallversicherungsanstalt und verlangte eine Unterstützung. Da er mit seinem Ansuchen abgewiesen wurde, beschimpfte er die Beamten, warf mit den Stühlen herum, und als die Diener herbeieilten, bedrohte er sie mit seinem Taschenmesser. Es wurde ein Sicherheitswachmann geholt, worauf es erst gelang, ihm das Messer zu entreißen. Der Mann wurde dem Sicherheitsdepartement der Policeidirection eingeliefert.«

Ob Franz und Joseph Kafka weitläufig miteinander verwandt waren, lässt sich nicht mehr feststellen. Immerhin wurden beide nach dem regierenden Kaiser Österreich-Ungarns benannt, ebenso wie der Angeklagte Josef K. in Kafkas Process, dem Beleidigung, Sachbeschädigung und Nötigung freilich ganz fern lagen.



Quellen: Prager Tagblatt, 31. Dezember 1899, S. 7. Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt am Main 1974, S. 76.