Kafkas Grabinschrift

Am Dienstag, den N[eumond]t[ag] des Siwan [= 1. Siwan] des Jahres 400+200+80+4 [[5]684 = 1924] n[ach der] k[leinen] Z[eitrechung]

E[s ging in] s[eine Welt] der unverheiratete Mann, der Prächtige, der Wunderbare, u[nser] L[ehrer] u[nd Meister] Anschel, a[uf ihm sei der] F[riede]; der Sohn des hochverehrten e[hrbaren] H[errn] Henoch Kafka, sein Licht möge leuchten. Der Name seiner Mutter ist Jettl.

[Schlusseulogie:] S[eine] S[eele] m[öge eingebunden sein] i[m Bund] d[es Lebens]


Kommentar

Die Grabinschrift Franz Kafkas folgt im Grunde dem in dieser Zeit üblichen Formular hebräischer Inschriften. Sie besticht in ihrer Redundanzlosigkeit.

Es fehlt die seit dem späten Mittelalter übliche Einleitungsformel »Hier liegt begraben / hier ist geborgen«.

Datum: Statt einer fakultativen Einleitung am Beginn der Inschrift genannt, wird – wie in hebräischen Grabinschriften meist üblich – der 1. Siwan (im Jahr 1924 der 3. Juni) nicht als solcher, sondern als Neumondtag des Monats Siwan beschrieben.

Das Sterben wird mit der euphemistischen Formulierung »Er ging in seine Welt« umschrieben.

Name des Verstorbenen: Ebenfalls typisch für die hebräische Inschrift wird ausschließlich der jüdische Name Franz Kafkas genannt: Anschel. Bei aller Knappheit wird jedoch darauf hingewiesen, dass Kafka unverheiratet war. Ebenso findet sich die Titulatur eines MORENU (»unser Lehrer«). Damit werden gewöhnlich nur in der jüdischen Tradition besonders gelehrte Personen ausgezeichnet. Der langjährige Bibliothekar der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Dr. Bernhard Wachstein (1868–1935), bezeichnet die MORENU-Titulatur als »synagogaler Doktortitel«. Dem Vornamen nachgestellt ist der Segenswunsch für Verstorbene: »auf ihm sei der Friede«.

Name des Vaters: Auch der Vater wird nur mit seinem jüdischen Namen, Henoch, genannt. Der dem Namen nachgestellte Segenswunsch »sein Licht möge leuchten« weist darauf hin, dass der Vater zum Zeitpunkt des Ablebens seines Sohnes noch am Leben war.

Name der Mutter: Dieser wird am Schluss in einer in vielen Regionen üblichen und (biblischen) Formel genannt (»Der Name der Mutter war…«). Typischerweise fehlt bei dieser Formel der Segenwunsch, also ein Hinweis, ob die Mutter noch am Leben war.

Auffällig, wenn auch angesichts der kurz gehaltenen Inschrift nicht verwunderlich ist, dass ein Lobteil, die Eulogie, oft sehr lange und gelehrte Texte über das Leben des Verstorbenen, völlig fehlt.

Dagegen nicht fakultativ und auch in Kafkas Grabinschrift zu finden ist der jahrhundertealte, die Inschrift beschließende Segenswunsch, die sogenannte Schlusseulogie »Seine Seele möge eingebunden sein im Bund des Lebens« (angelehnt an 1. Buch Samuel 25,29).

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Kafkas Grab, in dem auch seine Mutter Julie und sein Vater Hermann bestattet sind, befindet sich im Neuen jüdischen Friedhof im früheren Prag-Straschnitz. Der Grabstein wurde von dem kubistischen Prager Architekten Friedrich Ehrmann entworfen.

Das Begräbnis fand am 11. Juni 1924 statt, acht Tage nach Kafkas Tod in Kierling bei Wien.

Übersetzung und Kommentar von Johannes Reiss, Österreichisches Jüdisches Museum Eisenstadt, 2015. Der S.Fischer Verlag dankt der Österreichischen Franz Kafka Gesellschaft.