Kafka turnt nach System

Spätestens im Jahr 1910 begann Kafka mit täglichen Turn- und Atemübungen nach der Methode des dänischen Sportlers und Gymnastiklehrers Jørgen Peter Müller (1866-1938). Mit seinem Buch Mein System. 15 Minuten täglicher Arbeit für die Gesundheit, dessen erste Auflage 1904 erschien, verzeichnete Müller einen überwältigenden Erfolg; es wurde in 24 Sprachen übersetzt, und allein die deutsche Übersetzung erreichte zu Kafkas Lebzeiten eine Auflage von fast 400.000 Exemplaren. Mit Büchern wie Mein System für Frauen, Mein System für Kinder und Mein Atmungs-System führte Müller diesen Erfolg fort.

Müllers System zielte weniger auf Muskelkraft als vielmehr auf allgemeine Fitness und Beweglichkeit. Alle Körperorgane, auch die Haut, sollten gestärkt und kräftig durchblutet werden. Die Übungen wurden in der Wohnung durchgeführt, vorzugsweise vorm offenen Fenster, und bedurften keiner technischen Hilfsmittel.

Kafka hielt am allabendlichen »Müllern« jahrelang fest und befolgte das Programm mit größter Disziplin. Auch versuchte er, Verwandte und Freunde zu bekehren. Bei seiner jüngsten Schwester Ottla gelang ihm dies offensichtlich, bei seiner Verlobten Felice Bauer hingegen nicht: Ihr war das einsame Turnen nach Plan schlicht zu langweilig. Obwohl bei Kafka im September 1917 Lungentuberkulose diagnostiziert wurde, führte er nachweislich bis Ende dieses Jahres, wahrscheinlich aber noch wesentlich länger die Müllerschen Übungen fort.

Die Abbildungen stammen aus Müllers Klassiker Mein System und zeigen den Verfasser bei der Demonstration seiner Übungen. Die Tatsache, dass Müller in seinen Publikationen den eigenen Körper in den Vordergrund rückte, sich in Vorworten als »schönster Mensch« feiern ließ und gar als Sportjournalist mit »Apoxyomenos« zeichnete (die antike Marmorstatue eines Athleten), trug ihm einigen feuilletonistischen Spott ein.