Kafkas Nichte: Gedenkblatt für Marianne Steiner

Der Onkel hat den Auftritt seiner neunjährigen Nichte im Tagebuch festgehalten: »Der Anblick der Kinder, besonders eines Mädchens (aufrechter Gang, kurze schwarze Haare) ...« Anlaß war die Kinderpurimfeier im Prager Heinesaal 1922. Und selbst die Presse vermerkte »die klare und reine Vorlesung der Purimgeschichte durch die kluge Marianne Pollak«. Der Onkel ist Franz Kafka, die Nichte eine der beiden Töchter von Kafkas Schwester Valli.

Im selben Heinesaal hat die junge Marianne ihren späteren Mann, Georg Steiner, kennengelernt. Steiner war Juniorchef des, neben Kniše, vornehmsten Prager Herrenausstatters Barta & Co. Kaum verheiratet, flieht das junge Ehepaar 1939 vor den einrückenden deutschen Truppen nach England. Es sollte nicht die letzte Emigration sein. Beider Eltern wollten ihnen nicht folgen. »Sie müssen wissen, daß man nach dem Anschluß in Österreich auch in Prag große Angst hatte, obzwar viele Leute sagten, das kann hier nicht geschehen. Aber, wie Sie wissen, ist es doch geschehen.« Vergeblich die Hoffnung, man könne dem Unheil entgehen, wenn man, wie der Vater ihr eingeschärft hatte, »einfach, unauffällig und bescheiden« sei.

Im Jahr 1945 kehren die Steiners nach Prag zurück und versuchen, nach mühsamen Rückgabestreitigkeiten an die Vorkriegstradition wieder anzuknüpfen. Kurz nach dem stalinistischen Gottwald-Putsch im Jahr 1948 emigrieren sie mit ihrem jungen Sohn Michael zum zweiten Mal nach England. Für immer.

Wenn sie sprach, lebte wie auf leichten Flügeln der Klang, Ton und Duktus des wasserklaren Prager Deutsch wieder auf. die eigentümlichen, durch die schwebende Endsilbenbetonung hervorgerufenen Bindungen und akuten Dehnungen haben für unsere Ohren das Sprachbild einer untergegangenen Zeit wieder aufgefrischt. Nicht minder makellos war ihr Tschechisch, das die vorherrschende Sprache auch für die jüngeren deutschsprachigen Juden war: »In meiner Jugend war ich eigentlich bilingual« – sagte sie und setzte leichten Fußes ins Englische über, die Sprache ihres Exils. Die mitunter prekäre Stellung der tendenziell zur deutschen Seite neigenden Prager Juden in den Jahren der ersten Republik war für sie sehr früh schon Grund, jeglichen »überspannten Nationalismus« abzulehnen – »was wir damals schon Faschismus nannten«.

Die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden in der Masaryk-Zeit kamen ihr, wie sie nach einer winzigen Pause sagt, »taktlos« vor; für ihre eigene Position findet sie ein überraschendes, dem Exil entliehenes Bild: »Ich hatte nichts gegen die Tschechen, nichts gegen die Deutschen und nichts gegen die Juden. Aber doch wollte ich mich nicht in eine Brüderschaft zwingen lassen. Ich würde nie, jetzt, da ich in England lebe, von mir sagen, ich sei englisch. Ich bin britisch!« Von der Verschleppung und Ermordung des größten Teils der Familien Kafka und Pollak erfährt sie erst nach dem Krieg. Dora Diamant, Kafkas letzte Gefährtin, trifft sie wie durch ein Wunder nach dem Krieg wieder in London.

Fragte man sie nach Kafka, so war ihre konkrete, bildhafte Erinnerung – sie war elf, als er starb – von den Photographien überlagert, die auch wir von ihm kennen: »Das bekannte Bild mit dem Hut und dem schwarzen Mantel auf dem Altstädter Ring – so habe ich ihn in Erinnerung.« Doch dann wird sie genauer und erinnert daran, daß in ihrer Jugend »niemand über Kafka sprach« – außerhalb der Familie: »Die Schwestern natürlich, die sagten, ›Franz würde raten ... Franz hatte gerne Dickens, also lesen wir jetzt Dickens.‹ Aber weiter habe ich mich mit ihm nie beschäftigt; auch verstand ich seine Bücher nicht; erst das Leben hat mich gelehrt zu verstehen, worüber er eigentlich schreibt.«

Wie auf einer Momentaufnahme hält sie den Augenblick fest, da sie am Tag der deutschen Okkupation zum Prager Wilson-Bahnhof eilt, um den prominenten Zionisten adieu zu sagen – Weltsch ist da und Brod und etliche andere. Brod hat als Reisegepäck einen Koffer voller Schuhschachteln: Kafkas Manuskripte.

Lange Jahre hat es gedauert, bis sie dem Verleger Schocken die ihr und den übrigen Erben zustehenden Handschriften des Onkels wieder entlocken konnte. Schocken hatte die Manuskripte kurz vor Ausbruch des israelisch-arabischen Krieges 1956 von Max Brod zu treuen Händen in Verwahrung genommen und in seinem amerikanischen Palais in Jerusalem deponiert; später transferierte er das kostbare Gut in seine Schweizer Bank. Die Auseinandersetzungen zwischen dem mächtigen Herrn Schocken – »ein fanatischer Sammler« (Steiner über Schocken) – und »dieser Hausfrau« (Schocken über Marianne Steiner) müssen sehr heftig gewesen sein; einmal entfuhr Schocken in einem Brief an Brod mit kaum verhaltenem Zorn der Satz: »Ich verstehe die Erregung der Frau Steiner. Aber ich entsinne mich nicht, daß in meiner fünfzigjährigen Berufsarbeit jemand in einer solchen Sprache mit mir gesprochen hat.« Schließlich gab der Allmächtige nach – und Marianne Steiner konnte Malcolm Pasley gewinnen, die Manuskripte an die Bodleiana zu überführen; zusammen mit ihrer früh verstorbenen Cousine Gertie hat sie 1972 diese Manuskripte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Michael Steiner verwaltet heute das Erbe.

Im Prag der Vorkriegszeit war sie eine ravishing beauty – ganz nebenbei erwähnt sie, daß sie gelegentlich mit Elisabeth Bergner verwechselt worden sei. Zu den Freunden aus Deutschland, die in den letzten Jahren mit dieser lebhaften, scharf urteilenden und äußerst sprachbewußten Dame freundschaftlichen Kontakt hielten, zählten Klaus und vor allem Katja Wagenbach, auch Hans-Gerd Koch, der Herausgeber der Kafka-Briefe. Koch war es, der am 7. November im Prager Goethe-Institut unter großer Anteilnahme älterer wie jüngerer Prager einen Interviewfilm vorführte, der 1997 mit ihr entstanden ist. Marianne Steiner freute sich aus der Ferne über den Abend. Tags darauf ist sie, siebenundachtzigjährig, in London verstorben.


Dieser Artikel des Film- und Theaterschauspielers Hanns Zischler, der auch über Kafkas Beziehung zum Kino forschte und publizierte, erschien erstmals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. November 2000. Online-Publikation mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Foto: Hans-Gerd Koch.