Kafka glaubt den Ärzten nicht
Dr. Heinrich Kral

Diese empörenden Ärzte! Geschäftlich entschlossen und in der Heilung so unwissend, dass sie, wenn jene geschäftliche Entschlossenheit sie verliesse, wie Schuljungen vor den Krankenbetten stünden.
Tagebuch, 5. März 1912

Nein, berühmten Ärzten glaube ich nicht; Ärzten glaube ich nur, wenn sie sagen, dass sie nichts wissen und ausserdem hasse ich sie (hoffentlich lieben Sie keinen).
Brief an Felice Bauer, 5. November 1912

Ich bin der älteste von sechs Geschwistern, zwei Brüder etwas jünger als ich, starben als kleine Kinder durch Schuld der Ärzte
Brief an Felice Bauer, 19./20. Dezember 1912

Die Untersuchung beim Doktor [Kral], wie er gleich gegen mich vordringt, ich mich förmlich aushöhle und er in mir verachtet und unwiderlegt seine leeren Reden hält.
Tagebuch, 21. Juni 1913

An und für sich glaube ich ihm [Dr. Kral] nicht, aber beruhigen lasse ich mich von ihm, wie von jedem Arzt.
Brief an Felice Bauer, 4. August 1913

Die Medicin versteht es ja nicht anders als Schmerzen mit Schmerzen zu behandeln, das heisst dann »die Krankheit bekämpft« haben.
Brief an Grete Bloch, 17. Mai 1914

… wenn es natürlich auch richtig bleibt, dass jeder Gesunde jedem Kranken gegenüber idiotisch erscheint und sich auch wirklich idiotisch verhält. Das gilt besonders von Ärzten, die sich berufsmässig so verhalten müssen.
Brief an Grete Bloch, 18. Mai 1914

… gestern war ich wieder bei ihm, er war klarer als sonst, aber es bleibt seine oder aller Ärzte Eigentümlichkeit, dass sie aus notwendiger Unwissenheit und weil die Frager ebenso notwendig alles wissen wollen, entweder Wesenloses wiederholen oder in Wichtigem sich widersprechen und weder das eine noch das andere eingestehen wollen.
Postkarte an Ottla Kafka, 4./5. September 1917

Gewiss, die Ärzte sind dumm oder vielmehr sie sind nicht dümmer als andere Menschen aber ihre Prätentionen sind lächerlich, immerhin, damit muss man rechnen, dass sie von dem Augenblick an, wo man sich mit ihnen einlässt, immer dümmer werden und was der Arzt vorläufig verlangt ist weder sehr dumm noch unmöglich.
Brief an Milena Jesenská, um den 18. Mai 1920

Ist der Arzt nur ein Freund, dann mag es angehn, sonst aber ist es unmöglich sich mit ihnen zu verständigen. Ich z.B. habe 3 Ärzte, den hiesigen, Dr Kral und den Onkel. Dass sie verschiedenes raten, wäre nicht merkwürdig, dass sie gegensätzliches raten (Dr Kral ist für Injektionen, der Onkel gegen) ginge auch noch an, aber dass sie einander selbst widersprechen, das ist unverständlich
Brief an Ottla David, 16. März 1921

Es gibt nur eine Krankheit, nicht mehr, und diese eine Krankheit wird von der Medicin blindlings gejagt wie ein Tier durch endlose Wälder.
Brief an Max Brod, Ende April 1921



Kafkas Urteil über die Schulmedizin war von den Vorstellungen der Naturheilkunde geprägt. So lehnte er es strikt ab, unspezifische Symptome wie Nervosität, Schlaflosigkeit oder Kopfschmerzen mit Medikamenten zu behandeln; statt dessen setzte er auf gesunde Ernährung, Bewegung im Freien, Luft- und Sonnenbäder. Selbst bei lebensbedrohlichen Krankheiten wie der Tuberkulose, von der er selbst betroffen war, hielt er eine ›natürliche‹ Lebensweise, menschliche Zuwendung und eine stressfreie Umgebung für mindestens ebenso wirksam wie die seiner Ansicht nach niemals an die Wurzel der Krankheit reichenden schulmedizinischen Therapien. Auch staatlich verordnete Impfungen lehnte Kafka ab (siehe das zugehörige Fundstück). Nach heutigen Maßstäben vertrat er demnach ein ›ganzheitliches‹, strikt psychosomatisches Modell von Krankheit.

Den damals weit verbreiteten therapeutischen Optimismus der Schulmedizin und deren starres Festhalten an monokausalen Erklärungen hielt Kafka demgegenüber für borniert. Dass die zahlreichen Ärzte, die er in seinem Leben konsultieren musste, einander häufig widersprachen, bestärkte ihn noch in seiner Auffassung, dass die ärztliche Autorität in einem grotesken Missverhältnis stand zu dem fragmentarischen und vielfach schwankenden Wissen der Schulmedizin. Zwar traf Kafka immer wieder auf Mediziner, die er respektieren konnte oder die er sogar – wie seinen Freund Robert Klopstock – für ›geborene Ärzte‹ hielt; doch dazu waren nach seiner Ansicht vor allem menschliche Zugewandtheit und eine gesunde Skepsis gegenüber der eigenen Profession vonnöten.

Als Patient war Kafka kooperativ; Ärzten, deren Empfehlungen ihn nicht sonderlich überzeugten, hielt er dennoch die Treue, so lange sie engagiert blieben, wie etwa der Hausarzt der Familie Kafka, Dr. Heinrich Kral (siehe Abbildung). Dass er in den letzten Wochen seines Lebens einem ganzen Konsilium von Ärzten ausgeliefert war und auch hochwirksame Schmerz- und Betäubungsmittel nicht mehr vermeiden konnte, empfand er hingegen als schwere Kränkung.



Quellen: Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1990, S. 395, 562. Franz Kafka, Briefe. 1900–1912, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1999, S. 212, 345. Franz Kafka, Briefe. 1913–März 1914, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1999, S. 250. Franz Kafka, Briefe. April 1914–1917, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S.Fischer) 2005, S. 61, 312. Franz Kafka, Briefe an Milena, hrsg. von Jürgen Born und Michael Müller, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1983, S. 19. Franz Kafka, Briefe an Ottla und die Familie, hrsg. von Hartmut Binder und Klaus Wagenbach, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1974, S. 116. Max Brod, Franz Kafka, Eine Freundschaft. Briefwechsel, hrsg. von Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1989, S. 341.

Foto: Archiv Hartmut Binder, Ditzingen.