Die schöne Tilka
Tilka Reiß, 1917

Viel gesehn in der letzten Zeit, weniger Kopfschmerzen. Spaziergänge mit Frl. Reiss. Mit ihr bei »Er und seine Schwester«, von Girardi gespielt. […] In der städtischen Lesehalle. Bei ihren Eltern die Fahne angesehn. Die 2 wunderbaren Schwestern Esther und Tilka wie Gegensätze des Leuchtens und Verlöschens. Besonders Tilka schön: olivenbraun, gewölbte gesenkte Augenlider, tiefes Asien. Beide Shawls um die Schultern gezogen. Sie sind mittelgross, eher klein und erscheinen aufrecht und hoch wie Göttinnen, die eine auf dem Rundpolster des Kanapees, Tilka in einem Winkel auf irgendeiner unkenntlichen Sitzgelegenheit, vielleicht auf Schachteln.



Auch bei Frauen und Mädchen, deren äußere Erscheinung Kafka angenehm war, blieb sein Blick häufig, bisweilen zwanghaft an störenden Einzelheiten hängen. Sein Tagebucheintrag vom 3. November 1915 bietet eines der seltenen Beispiele dafür, dass er von weiblicher Schönheit ganz ohne Vorbehalte fasziniert war.

Die Handschrift zeigt, wie der Eindruck ihn beschäftigte. Denn zunächst schrieb Kafka nur »Die 2 wunderbaren Schwestern.« Dann löschte er den Punkt und ergänzte die Namen Esther und Tilka. Dann tilgte er auch den Punkt hinter »Tilka« und setzte fort: »wie Gegensätze des Leuchtens und Verlöschens.«

Die Schwestern Fanny, Esther und Tilka Reiß gehörten zu einer ostjüdischen Familie aus Lemberg in Galizien, die – wie Tausende andere – vor den russischen Armeen nach Prag geflohen waren. Max Brod unterrichtete solche Mädchen ehrenamtlich, wobei Kafka manchmal als stiller Beobachter zugegen war. Auf diese Weise kam wohl auch sein Kontakt zur Familie Reiß zustande.

Bei der von Kafka erwähnten Fahne dürfte es sich um eine aus Lemberg gerettete Thora-Fahne handeln. Das Theaterstück, das er gemeinsam mit Fanny Reiß in einer Nachmittagsvorstellung des Neuen deutschen Theaters sah, war eine ›Posse mit Gesang‹ von Bernhard Buchbinder, gespielt von Alexander Girardi, dem damals populärsten österreichischen Komödianten.



Quelle: Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1990, S. 769.

Foto: Archiv Hartmut Binder, Ditzingen.