Ohne Pass über die Grenze
Bahnhof von Gmünd, um 1900

Jetzt die Geschichte der Reise und dann sage noch dass Du kein Engel bist: Seit jeher wusste ich, dass mein österreichisches Visum eigentlich (und uneigentlich) schon vor 2 Monaten abgelaufen war, aber in Meran hatte man mir gesagt, dass es für die Durchfahrt überhaupt nicht nötig sei und tatsächlich machte man mir jetzt bei der Einreise in Österreich keine Aussetzung. Deshalb vergass ich auch in Wien diesen Fehler vollständig. In Gmünd aber bei der Passstelle fand der Beamte – ein junger Mann, hart – diesen Fehler gleich heraus. Der Pass wurde beiseite gelegt, alle durften weiter zur Zollrevision gehn, ich nicht, das war schon schlimm genug […] aber da fingst schon Du zu arbeiten an. Ein Grenzpolizist kommt – freundlich, offen, österreichisch, teilnehmend, herzlich – und führt mich über Treppen und Gänge ins Grenzinspektorat. Dort steht schon mit einem ähnlichen Passfehler eine rumänische Judenfrau, merkwürdigerweise auch Deine freundliche Abgesandte, Du Judenengel. Aber die Gegenkräfte sind noch viel stärker. Der grosse Inspektor und sein kleiner Adjunkt beide gelb mager verbissen, wenigstens jetzt, übernehmen den Pass. Der Inspektor ist gleich fertig: »Nach Wien zurückfahren und den Sichtvermerk bei der Polizeidirektion holen!« Ich kann nichts anderes sagen als mehrere Male: »Das ist für mich schrecklich.« Der Inspektor antwortet ebenfalls mehrere Male ironisch und böse: »Das kommt Ihnen nur so vor.« »Kann man nicht telegraphisch den Vermerk bekommen?« »Nein« »Wenn man alle Kosten trägt?« »Nein« »Gibt es hier keine höhere Instanz?« »Nein« Die Frau, die mein Leid sieht und grossartig ruhig ist, bittet den Inspektor, dass er wenigstens mich durchlassen soll. Zu schwache Mittel, Milena! So bringst Du mich nicht durch. Ich muss den langen Weg zur Passstelle wieder zurückgehn und mein Gepäck holen, mit der heutigen Abreise ist es also endgültig vorbei. Und nun sitzen wir in dem Grenzinspektoratszimmer beisammen, auch der Polizist weiss wenig Trost, nur dass die Gültigkeit der Fahrkarten sich verlängern lässt udgl., der Inspektor hat sein letztes Wort gesagt und sich in sein Privatbureau zurückgezogen, nur der kleine Adjunkt ist noch da. Ich rechne: der nächste Zug nach Wien fährt um 10 Uhr abends ab, kommt um ½3 nachts in Wien an. Von dem Riva-Ungeziefer bin ich noch zerbissen, wie wird mein Zimmer beim Franz Josefs Bahnhof aussehn? Aber ich bekomme ja überhaupt keines, nun dann fahre ich (ja, um ½3) in die Lerchenfelder Strasse und bitte um Unterkunft (ja, um 5 Uhr früh). Aber wie das auch sein wird, jedenfalls muss ich mir also Montag vormittag den Sichtvermerk holen (bekomme ich ihn aber gleich und nicht erst Dienstag?) und dann zu Dir gehn, Dich überraschen in der Tür, die Du öffnest. Lieber Himmel. Da macht das Denken eine Pause, dann aber geht es weiter: Aber in welchem Zustande werde ich sein nach der Nacht und der Fahrt und abend werde ich doch gleich wieder fortfahren müssen mit dem 16stündigen Zug, wie werde ich in Prag ankommen und was wird der Direktor sagen, den ich also jetzt wieder telegraphisch um Urlaubsverlängerung bitten muss? Das alles willst Du gewiss nicht, aber was willst Du denn dann eigentlich? Es geht doch nicht anders. Die einzige kleine Erleichterung wäre, fällt mir ein, in Gmünd zu übernachten und erst früh nach Wien zu fahren und ich frage schon ganz müde den stillen Adjunkten nach einem Morgenzug, der nach Wien fährt. Um ½6 und kommt um 11 Uhr vormittag an. Gut, mit dem werde ich also fahren und die Rumänin auch. Aber hier ergibt sich plötzlich eine Wendung im Gespräch, ich weiss nicht auf welche Weise, es blitzt jedenfalls auf, dass der kleine Adjunkt uns helfen will. Wenn wir in Gmünd übernachten, wird er uns früh, wo er allein im Bureau ist, im Geheimen nach Prag mit dem Personenzug durchlassen, wir kommen dann um 4 Uhr nachmittag nach Prag. Dem Inspektor gegenüber sollen wir sagen, dass wir mit dem Morgenzug nach Wien fahren werden. Wunderbar! Allerdings nur verhältnismässig wunderbar, denn nach Prag werde ich ja doch telegraphieren müssen. Immerhin. Der Inspektor kommt, wir spielen eine kleine Komödie den Wiener Morgenzug betreffend, dann schickt uns der Adjunkt fort, abend sollen wir ihn zur Besprechung des Weiteren im Geheimen besuchen. Ich in meiner Blindheit denke, das käme von Dir, während es in Wirklichkeit nur der letzte Angriff der Gegenkräfte ist. Nun gehn wir also, die Frau und ich, langsam aus dem Bahnhof (der Schnellzug der uns hätte weiter bringen sollen, steht noch immer da, die Gepäckrevision dauert ja lange). Wie weit ist es in die Stadt? Eine Stunde. Auch das noch. Aber es zeigt sich, dass auch beim Bahnhof 2 Hotels stehn, in eines werden wir gehn. Ein Geleise führt nahe an den Hotels vorbei, das müssen wir noch überqueren, aber es kommt gerade ein Lastzug, ich will zwar noch rasch vorher hinübergehn, aber die Frau hält mich zurück, nun bleibt aber der Lastzug gerade vor uns stehn und wir müssen warten. Eine kleine Beigabe zum Unglück, denken wir. Aber gerade dieses Warten, ohne das ich Sonntag nicht mehr nach Prag gekommen wäre, ist die Wendung. Es ist, als hättest Du, so wie Du die Hotels am Westbahnhof abgelaufen hast, jetzt alle Tore des Himmels abgelaufen, um für mich zu bitten, denn jetzt kommt Dein Polizist den genug langen Weg vom Bahnhof atemlos uns nachgelaufen und schreit: »Schnell zurück, der Inspektor lässt Sie durch!« Ist es möglich? So ein Augenblick würgt an der Kehle. Zehnmal müssen wir den Polizisten bitten, ehe er Geld von uns nimmt. Jetzt aber zurücklaufen, das Gepäck aus dem Inspektorat holen, damit zur Passstelle laufen, dann zur Zollrevision. Aber jetzt hast Du schon alles in Ordnung gebracht, ich kann mit dem Gepäck nicht weiter, da ist schon zufällig ein Gepäckträger neben mir, bei der Passstelle komme ich ins Gedränge, der Polizist macht mir den Weg frei, bei der Zollrevision verliere ich, ohne es zu wissen, das Etui mit den goldenen Hemdknöpfen, ein Beamter findet es und reicht es mir. Wir sind im Zug und fahren sofort, endlich kann ich mir den Schweiss von Gesicht und Brust wischen. Bleib immer bei mir!


Detail

Kafka schrieb diesen Brief an Milena Jesenská am 5. Juli 1920, einen Tag, nachdem er aus Wien in Prag eingetroffen war. Es war dies sein erster Tag im Büro nach mehr als drei Monaten. Denn bereits Anfang April war Kafka nach Meran gereist, um in dem dortigen milden Klima seine Tuberkulose zu kurieren. Von Meran aus hatte er die Korrespondenz mit Milena Jesenská begonnen, der Briefwechsel intensivierte sich sehr rasch, so dass sie Kafka dazu überreden konnte, bei seiner Heimreise den Umweg über Wien zu wählen, um sie zu treffen. Im Glück der vier gemeinsamen Tage vergaß jedoch Kafka, dass er in Österreich kein bloßer ›Durchreisender‹ mehr war und einen weiteren Stempel in seinem Visum benötigte, um das Land über die Grenzstation Gmünd wieder zu verlassen.

In der von Kafka erwähnten Lerchenfelderstraße befand sich die Wohnung Jesenskás; das »Riva-Ungeziefer« ist eine Erinnerung an das Hotel Riva am Wiener Südbahnhof. Die körperliche Erschöpfung, die er am Ende seines Berichts andeutet, ging natürlich auf seine Krankheit zurück: Das schnelle Gehen mit schwerem Gepäck verursachte ihm Atemnot und Schweißausbrüche. Denkbar ist sogar, dass Kafkas sichtlich schlechte körperliche Verfassung der Grund für die unverhoffte Nachgiebigkeit des Inspektors war. Darauf deutet auch die Bitte der rumänischen Jüdin hin, doch wenigstens Kafka durchzulassen.

Sein Abenteuer an der Grenze hatte aber auch noch eine politische Pointe, die Kafka als Zeitungsleser nicht entgangen sein kann. Aufgrund des Friedensvertrags von St. Germain (September 1919), der die Staatsgrenzen Österreichs neu festlegte, wurden die Gmünder Nachbargemeinden Unter-Wielands und Böhmzeil samt dem Gmünder Bahnhof der Tschechoslowakei zugeschlagen, die neue Grenze verlief demnach zwischen Bahnhof und Stadt. Der Vertrag trat am 16. Juli 1920 in Kraft, am 1. August wurde der Bahnhof von tschechischen Beamten übernommen. Da es jedoch im österreichischen Teil von Gmünd noch keinen geeigneten Bahn-Haltepunkt gab, wurde die österreichische Pass- und Zollkontrolle weiterhin auf dem Bahnhofsgelände erledigt, auf tschechischem Gebiet. Das heißt: Bereits vier Wochen nach seinem Disput mit dem entnervten Kafka benötigte der österreichische Inspektor selbst einen Pass, um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen.



Quelle: Brief an Milena Jesenská, 5. Juli 1920, in: Franz Kafka, Briefe an Milena, hrsg. von Jürgen Born und Michael Müller, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1983, S. 86-90.